Schritte aus dem Kreislauf heraus
Ukraine – Bilanz eines politischen Jahres
Kommune, 26.Jahrgang 1/2008
Wolfgang Templin
Am 18. Dezember 2007 war es endlich soweit, dass eine Siegerin strahlen und jubeln konnte. Elf zähe Wochen hatte es gedauert, bis nach den vorgezogenen Neuwahlen in der Ukraine, Julia Wladimirowna Tymoschenko, zur neuen Ministerpräsidentin gewählt wurde. Eine, im Gefolge der Neuwahlen zustande gekommene "demokratische Koalition" zwischen ihrer Partei BJUT, und der Partei "Unsere Ukraine – Selbstverteidigung der Nation", die hinter dem Staatspräsidenten Juschtschenko steht, verfügt in der Werchowna Rada (Hoher Rat), dem Parlament der Ukraine nur über eine hauchdünne Mehrheit von 227 der 450 Abgeordneten. Die eiserne Julia, wie sie im Volksmund genannt wird, bekannt für ihren unbedingten Machtwillen und ihre populistischen Instinkte, hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie nur in einem erneuten Zusammengehen der politischen Kräfte, welche für die Tradition der Majdanrevolution stehen, eine Chance für den weiteren Reformweg ihres Landes sieht. Dem stand das Zögern und Taktieren von Juschtschenko gegenüber, der sich nach dem mehr als knappen Wahlsieg der orangenen Kräfte, erneut für politische Lösungen in Gestalt einer faktischen großen Koalition aussprach. Ihr gemeinsamer Gegenspieler, der Donezker Politiker und Führer der Partei der Regionen, Viktor Janukowytsch, erreichte mit seiner Partei die stärkste Position bei den Neuwahlen, verfehlte aber mit den verbündeteten Kommunisten um Petro Simonenko, knapp die parlamentarische Mehrheit. Ein fünfter Parteienblock, der die parlamentarische Dreiprozenthürde knapp überwand, der nach seinem Vorsitzenden Wolodymir Litwin benannnte „ Block Litwin“ könnte mit seinen über zwanzig Abgeordneten entweder zur Stabilisierung der orangenen Koalition beitragen oder die Unsicherheit, der mehr als kappen Mehrheit potenzieren. In der Vergangenheit, für das ukrainische Parlament typische Wanderungsbewegungen von Abgeordneten, welche durch Bestechung, Stimmenkauf oder Erpressung die Fraktionen wechselten und Mehrheiten kippten, sollen zukünftig durch veränderte parlamentarische Spielregeln und das Verbot von Fraktionswechseln ausgeschlossen werden. Experten melden hier ihre Zweifel an, ob diese Maßnahmen vollständig greifen, geben der Reformregierung unter Julia Tymoschenko aber dennoch Chancen.
In den Wintermonaten des Jahres 2007, schien das politische Schicksal des Staatspräsidenten Viktor Juschtschenko und mit ihm auch der Majdanrevolution von 2004 besiegelt. Er hatte sich nach den Parlamentswahlen von 2006, im Spätsommer des Jahres auf einen „historischen Kompromiss“ mit seinem Gegner Janukowytsch eingelassen, der als Wahlbetrüger bei den Präsidentschaftswahlen des Herbstes 2004, zunächst hoffnungslos diffamiert schien. Rivalitäten und Eifersüchteleien des orangenen Führungsduos Juschtschenko – Tymoschenko; ihre Unfähigkeit, den angekündigten und von großen Teilen der ukrainischen Gesellschaft erwarteten einschneidenden Reformkurs durchzuhalten, hatten das Land erneut in die Krise gestürzt. Reformen, die das Land vom Erbe postsowjetischer Verkrustungen befreien, in Sachen Rechtsstaat und demokratischer Institutionen, den Weg der Ukraine nach Europa bahnen sollten, wurden angekündigt, jedoch verschleppt. Ebenso konnte sich der oligarchische Filz der Wirtschaftsmagnaten der Ostukraine , welcher im Gefolge einer wilden Kapitalisierung in den Neunziger Jahren entstanden war , erneut regenerieren. Die Unfähigkeit und der Eigennutz der orangenen politischen Eliten ermöglichten das politische Comeback der Janukowytschseite und begünstigten den erneuten Machtwechsel im Herbst 2006.
Was die Ukraine jedoch mittlerweile vom großen Nachbarn Russland unterschied und ihr über die Depressionsphase des letzten und vorletzten Jahres hinweghalf, waren starke zivile gesellschaftliche Kräfte, die im Majdanjahr 2004 auf den Plan traten und sich nicht vollständig zurückdrängen ließen, waren eine freie Presse und ein politischer Pluralismus, den auch die Gegenkräfte des Majdan nicht mehr aufheben konnten.
Viktor Janukowytsch stattete sich nach 2004 mit proeuropäischer Rhetorik aus, war um ein neues Auftreten bemüht und tauschte seine russischen Berater gegen amerikanische ein . Dennoch standen er und seine Partei der Regionen nach wie vor für die Interessenlagen der ostukrainischen Wirtschaftsmagnaten und postsowjetische Verhaltensmuster, welche die Ukraine für unabsehbar lange Zeit, in das Niemandsland zwischen Russland und EU –Europa verbannt hätten. Ihn und seine Anhänger einfach als prorussisch zu etikettieren wäre falsch, denn auch die ukrainischen Oligarchen sehen sich mittlerweile in Konkurrenz zu Russland, auch die Bevölkerung der Ostukraine, welche mit großer Mehrheit die Partei der Regionen unterstützt und russischsprachig ist, versteht sich als Ukrainer. Der Gegensatz ist ein anderer und wurzelt im Verständnis von Gesellschaft und Methoden der Politik.
Janukowytsch, der sich bei einem Kurzbesuch in Berlin im Februar 2007 als geläuterter ukrainischer Patriot und proeuropäischer Politiker zu präsentieren suchte, tat in diesen Monaten alles, um Staatspräsident Juschtschenko seiner letzten Kompetenzen zu berauben und damit die Gegenseite dauerhaft niederzuhalten. Sprach Janukowytsch in Berlin von gelingender Kohabitation so setzten seine Anhänger in Kiew alles daran, um das bolschewistische Prinzip „dem Sieger gehört alles“, durchzusetzen. Macht als zeitbegrenztes Prinzip der Delegierung zu verstehen und wirkliche Kompromisse als Grundlage der Politik anzuerkennen, war dieser Mentalität fremd. Politische Seilschaften, die noch zum Erbe des vormaligen autokratischen Staatspräsidenten Leonid Kutschma gehörten, besetzten erneut Schlüsselstellungen, die Spielregeln in Wirtschaft und Politik drohten wieder auf alte Weise zu funktionieren. Eine parlamentarische Mehrheit, über welche Ministerpräsident Janukowytsch verfügte, nachdem im Sommer 2006 der zu den Orangenen gezählte Sozialistenführer Oleksandr Moros mit seiner Partei das Lager wechselte und ihn unterstützte, wurde im Eiltempo ausgebaut. Ziel war die magische, verfassungsändernde Mehrheit von dreihundert Stimmen im Parlament. Durch Abwerbung und Stimmenkauf von Abgeordneten der Präsidentenpartei und der Partei Julia Tymoschenkos, schien diese Mehrheit schon greifbar nahe. Sie hätte Juschtschenko der letzten Kompetenzen beraubt, die Institution des Staatspräsidenten in Frage gestellt und die Chancen der Ukraine, Wirtschaftsreformen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, weitgehend blockiert.
Zahlreiche ausländische Beobachter sahen bereits das Erlöschen von Orange im politischen Farbenspektrum des Landes, trauten dem „ukrainischen Hamlet“, wie Juschtschenko ob seiner Entschlussunfähigkeit genannt wurde, keinen Kampf mehr zu. Diese Beobachter, welche zumeist dazu rieten, sich mit Janukowytsch zu arrangieren und den Platz der Ukraine im Schatten Russlands zu akzeptieren, unterschätzten die gesellschaftlichen und politischen Gegenkräfte des Landes. Julia Tymoschenko, die sich seit ihrem Zerwürfnis mit Juschtschenko als stärkste Kraft der Opposition profilierte und fähig war aus eigenen Fehlern und Versäumnissen zu lernen, rief die Ukrainer auf, sich der drohenden Restauration entgegenzustemmen und wenn es sein musste einen neuen Majdan zu organisieren. Einer der fähigsten und integersten Politiker der orangenen Kräfte, der Sozialist Juri Luzenko, welcher nach dem Verrat seines Parteiführer Moros, mit diesem gebrochen hatte, zog die eigenen Konsequenzen. Er hatte sich nach 2004 als Innenminister für die Säuberung des Polizeiapparates, für Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen die Korruption stark gemacht. Unter der Janukowytsch –Regierung aus dem Amt gedrängt, rief er im Winter 2007 eine neue Gesellschaftliche Widerstandsbewegung „ die nationale Selbstverteidigung“ ins Leben. Sie sollte die Werte des Majdan hochhalten und die Kräfte sammeln, welche bereit waren, sie zu verteidigen .
Ende März, Anfang April 2007 kam dann der Paukenschlag. Viktor Juschtschenko, konfrontiert mit der drohenden Machtlosigkeit und dem Triumph seiner Gegner, mit der Enttäuschung großer Teile der Gesellschaft, mit dem Druck seiner Verbündeten und zugleich Konkurrentin Julia Tymoschenko, nahm seine Verantwortung als Staatspräsident ernst. Er erklärte die Verfälschung des Wählerwillens durch die manipulative Verschiebung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse für illegitim, ordnete die Auflösung des bestehenden Parlamentes und Neuwahlen an. Natürlich wollte die Gegenseite, welche die dauerhafte Verschiebung der Machtverhältnisse zu ihren Gunsten bereits vor Augen hatte, diesen Schritt nicht akzeptieren. Es kam zu wochenlangen Konfrontationen, welche Ende Mai in einer Einigung über vorgezogene Neuwahlen am 30.September mündeten. Die turbulenten Wochen des Frühjahrs zeigten die Instabilität und Gefährdung der jungen Demokratie in der Ukraine. Sie zeigten aber auch, wie weit sich das Land bereits aus der postsowjetischen Erstarrung gelöst hatte, wie stark gesellschaftlicher Widerstand existierte und weitgehend freie Medien reagierten. Und noch eines stellte die Ukraine in diesen dramatischen Wochen unter Beweis. Es gab die Fähigkeit zum „Kompromiss fünf vor zwölf“, die Aufmärsche der Sicherheitskräfte des Präsidenten und der Gegenseite führten nicht zur Gewaltanwendung, sondern waren eher Muskelspiele.
Anders als die zeitgleiche russische Inszenierung eines gelenkten Machtwechsels im Kreml, wurden die ukrainischen Neuwahlen des Herbstes zur wirklich offenen Entscheidungssituation. Nachdem sich Janukowytsch zur Akzeptanz von Neuwahlen bequemt hatte, versuchte er die Sommermonate zur Wahlvorbereitung und Konsolidierung der eigenen Kräfte zu nutzen. Er wollte endgültig das Image eines ostukrainischen Mafiosi verlieren, sich als ausgleichender Politiker präsentieren, den die orangenen Abenteurer und Spalter erfolglos zu stoppen suchten.
Julia Tymoschenko wusste, dass jetzt alles auf dem Spiel stand. Nachdem es gelungen war Neuwahlen durchzusetzen, versuchte sie mit aller Macht, Ordnung in den eigenen Reihen zu schaffen. Politiker und Abgeordnete, welche sich mit Geldkoffern überzeugen ließen, die ihre Geschäftsinteressen über alles stellten, sollten nicht weiter das Geschehen bestimmen. Korrupte Eliten und die Chancen der Auseinandersetzung damit, wurden zum zentralen Thema des Wahlkampfes von Juri Luzenko, der die Partei Juschtschenkos verstärkte. Er und Julia Tymoschenko wurden zu den Motoren der orangenen Wahlkampagne und standen für das Versprechen eines erneuten Antretens der Erneuerungskräfte.
Am Wahlabend des 30. September und der darauf folgenden Nacht der endgültigen Stimmenauszählung, wuchs die Spannung immer mehr. Julia Tymoschenko, die in der gesamten Ukraine, mit großer Energie gekämpft hatte, wurde im gesamten Westen des Landes und nahezu allen Regionen der Zentralukraine zur stärksten Kraft und konnte auch im Osten Achtungserfolge erreichen. Mit über dreißig Prozent rückte sie dem Ergebnis von Viktor Janukowytsch nahe. Der blieb mit seiner Partei stärkste Kraft und hatte weiter die Kommunisten an seiner Seite. Nach Stunden des Wartens und Auszählens stellte sich die hauchdünne Mehrheit für eine mögliche Koalition der Orangenen heraus.
In den Wochen bis zur endgültigen Regierungsbildung im Dezember wurde deutlich, welche neue Zerreissprobe für die Ukraine ansteht. Vertreter der Präsidentenpartei, wie Juri Luzenko und Julia Tymoschenko hatten für einen erneuten Anlauf der Orangenen Kräfte gekämpft. Befestigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Reformen die den proeuropäischen Weg der Ukraine ermöglichen, Aufhebung sozialer Schieflagen, sind ihre entscheidenden Programmpunkte. Zugleich treten sie für die Stärkung und Achtung der Rechte einer Opposition ein, wehren sich aber gegen eine unklare Rollenverteilung. Juschtschenko, der noch im Wahlkampf voll auf die orangene Karte setzte, versuchte im Herbst eine indirekte Neuauflage der breiten Koalition zu befördern. Was auch immer er damit bezweckte, mit dem Argument größerer Stabilität konnte er nicht überzeugen. Auf der Seite der knappen Wahlverlierer, also Janukowytsch und seiner Verbündeten, gibt es sowohl die Tendenz zur Blockade und Obstruktion, wie auch die Versuche eines Arrangements und einerakzeptanz der Oppositionsrolle.
Bis zur erneuten Wahl eines ukrainischen Staatspräsidenten, im Oktober 2009 bleiben zwei knappe Jahre. Eine Zeit, die darüber entscheiden wird, ob sich die erfolgreiche Wahlkämpferin Julia Tymoschenko als verantwortliche Reformpolitikerin erweist, die schwierige Balance innerhalb des orangenen Lagers hält und die Beziehungen zur politischen Gegenseite den Maßstäben einer Demokratie entsprechen können. Dem Wunder des Jahres 2004 werden keine weiteren Wunder folgen, was aber möglich ist sind weitere Schritte eines Weges, der nicht in alte Kreisläufe zurückführt.