Quo vadis Ukraine?

aus: DIALOG 82 (2008), Deutsch-polnisches Magazin

 

von Wolfgang Templin

 

In den letzten Monaten gab es auf diversen deutschen Fernsehkanälen einen förmlichen Russlandboom. Zwischen den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 2007 und der Wahl des neuen russischen Präsidenten im März 2008, waren die Medien voll mit Reportagen und Berichten über das Riesenreich. Zum Themenspektrum gehörten die Vorstellung des neuen Thronanwärters Medwedjew und seiner Konkurrenten unter den "Silowiki", Spekulationen über mögliche Veränderungen des politischen Kurses und Bilanzen der "Ära Putin". Scharfe Kritik an der Verfolgung der Opposition und der fehlenden Pressefreiheit gehörte dazu.. Demgegenüber nahm die Ukraine, welche erneut ein fieberhaftes politisches Jahr hinter sich brachte, nur sehr schmalen Raum ein. Die Staatskrise im Frühjahr letzten Jahres, die Auseinandersetzung um vorgezogene Neuwahlen, der Wahlkampf und die Ergebnis der Wahlen wurden registriert und kommentiert, standen aber im Schatten der russischen Ereignisse. Für einen großen Teil der deutschen und zahlreiche internationale Beobachter scheint die Majdanrevolution des Jahres 2004 zur historischen Episode geworden, haben sich die Hoffnungen auf einen gelingenden ukrainischen Reformweg oder gar eine Alternative zum Russland Putins verflüchtigt. Das Land habe seine Reifeprüfung in Sachen Demokratie nicht bestanden, urteilte der deutsche Russlandexperte Alexander Rahr. Es sei geopolitisch ohnehin zur Anlehnung an seinen kraftstrotzenden russischen Nachbarn verpflichtet und tue gut daran, diesen nicht weiter zu reizen. Von daher könne auch einer Regierung Julia Tymoschenko kaum Erfolg beschieden sein. Binnen weniger Monate werde das Land in die nächste Krise stürzen und im Niemandsland zwischen Russland und der EU stecken bleiben.

 

Dem standen und stehen andere Stimmen gegenüber, die bei aller Kritik an der Unreife der ukrainischen Eliten, der Selbstbedienungsmentalität zahlreicher Politiker und der Zerstrittenheit der orangenen Kräfte, an den Chancen für einen europäischen Weg des Landes festhalten und die immer größere Distanz zum russischen Modell der „gelenkten“ oder „souveränen“ Demokratie betonen. Zu diesen Stimmen gehören namhafte ukrainische Intellektuelle, wie der ehemalige Oppositionelle Wolodymyr Filenko, der auch in Deutschland bekannte Kiewer Publizist Mykola Rjabtschuk oder der Herausgeber der Lemberger Zeitschrift "JI" Taras Wozniak. Der aus Charkiv stammende Filenko, eine der Galionsfiguren auf den Tribünen des Herbstes 2004, schrieb im Frühjahr 2007 im Kiewer Wochenspiegel, von einem Dritten Versuch für Orange, nach dem Scheitern der ersten Regierung Julia Tymoschenko und dem verschenkten Sieg nach den Parlamentswahlen im März 2005. Er warnte vor einer Einebnung der Unterschiede, beim Blick auf die Kräfte des „blauen“ Janukowytsch – Lagers und die orangenen Kräfte um Julia Tymoschenko und die Seite des Staatspräsidenten Viktor Juschtschenko. Mit Janukowytsch drohe ein Rückfall in postsowjetische Abhängigkeitsmuster, seine proeuropäische Rhetorik sei von einer Politik begleitet, welche vorrangig die eigene Seite und die Interessen der ostukrainischen Oligarchen bediene. Diese wollten am liebsten Mitglied im Brüsseler Klub sein und nach innen in gewohnter Weise schalten und walten. Ihnen käme es darauf an, die postsowjetischen Tätowierungen mit einem europäischen Kostüm zu überdecken. Beeindrucken davon ließen sich Eurokraten, diverse Politiker und ein geringer Teil der Wähler. Für die Orangenen sei zu hoffen, dass die bitteren Erfahrungen des Scheiterns in den letzten Jahren und das Bewusstsein der wahrscheinlich letzten gemeinsamen Chance jetzt endlich Früchte trügen.

 

In der Zeitschrift Osteuropa (10/2007) beschrieb Mykola Rjabtschuk die Chancen der neuen Situation in der Ukraine mit dem Bild kommunizierender Röhren und eines labilen, förmlich „erzwungenen Pluralismus“. Dieser sei dadurch entstanden, dass Viktor Juschtschenko im Ergebnis der friedfertigen orangenen Revolution darauf verzichtet habe, erneut die Mechanismen der autoritären Macht einzusetzen, es aber auch nicht schaffte, Mechanismen einer demokratischen Machtausübung zu implementieren. Besser jedoch ein labiler Pluralismus als eine autoritär verfasste Macht alten oder neuen Zuschnitts, wie sie mit Janukowytsch ins Haus stünde. In der neuen Situation ginge es um den schwierigen Übergang vom erzwungenen, zum reflektierten und institutionalisierten Pluralismus:

 

„Es wäre naiv zu glauben, das Niveau der Eliten könnte merklich höher sein als das Niveau der Gesellschaft, deren Teil sie sind. Noch naiver ist es zu denken, man könnte das Niveau schnell verändern. Die Verbindung zwischen den kommunizierenden Röhren allerdings, zwischen Macht und Gesellschaft, ist eine notwendige (wenn auch keine hinreichende) Bedingung für demokratische Veränderungen. Trotz ihrer institutionellen Schwäche, der fehlenden rechtsstaatlichen Tradition, des Partikularismus beziehungsweise Parochialismus der Eliten und der ungenügenden Reife der Zivilgesellschaft verfügt die Ukraine weiterhin über eine recht hohe gesellschaftliche Dynamik und Offenheit des politischen Systems, über freie Massenmedien und zivilgesellschaftliches Engagement der Bürger, um die demokratischen Institutionen und Verfahren schrittweise zu verbessern“.

 

Filenko und Rjabtschuk, sind wie zahlreiche weitere Intellektuelle, Journalisten und Vertreter von NGO’s selbst Teil des zivilgesellschaftlichen Potentials über welches sie schreiben. Eines Potentials welches 2004 zur historischen Wirkung gelangte, in den Kämpfen der demokratischen Opposition und des Ringens um die Unabhängigkeit der Ukraine aber viel tiefere Wurzeln hat. Zu diesem Potential zählen auch Kräfte der Wirtschaft. Taras Wozniak schreibt zu Recht, dass die Majdanrevolution wesentlich von liberalen Kräften des Mittelstandes mitgetragen wurde. Händler, kleinere und mittlere Unternehmer, vor allem aus der Westukraine, die sich dem Würgegriff der Oligarchen und der Ausplünderung durch die Beamten des Kutschma-Regimes widersetzten und andere Spielregeln einforderten, stellten den Demonstranten des Majdan ihre Fahrzeuge zur Verfügung, sammelten Geld und kümmerten sich um die Logistik. Sicherheit des Eigentums, Steuergerechtigkeit, transparente Verwaltung und Abbau der Korruption, waren und sind ihre Forderungen, auch gegenüber einer orangenen Regierung.

 

Wirtschaftliche, politische und zivile Kräfte, die insgesamt für eine proeuropäische Reformoption stehen, sieht auch der Kölner Osteuropaexperte Gerhard Simon, einer der besten deutschen Ukrainekenner als wichtigsten Garanten . Da die Opposition gegen Janukowytsch, sich im Verlauf der letzten Auseinandersetzung organisatorisch, personell und programmatisch konsolidiert habe, könne die nächste Etappe der Entwicklung einen realen Fortschritt bedeuten, schrieb er noch vor dem knappen Sieg der orangenen Kräfte bei den vorgezogenen Parlamentswahlen des 30. September 1907. Freie Medien, ein uneingeschränkter weltanschaulicher und politischer Pluralismus und gewaltlos ausgetragene Konflikte seien bereits jetzt Kennzeichen des möglichen Übergangs zu einer wirklichen Demokratie.

 

Im November 2007 zeigte eine Aktion Kiewer Fernsehjournalisten, die unter dem Motto "wir sind nicht käuflich" stand, wo neue Gefahren für eine der entscheidenden demokratischen Errungenschaften der Ukraine, die Pressefreiheit, lauerten. Die Journalisten wehrten sich gegen den Versuch ukrainischer Politiker, mit hohen Geldsummen Einfluss auf die Berichterstattung der Medien zu nehmen, politische Werbung als Nachrichten zu verkleiden.

 

Die Zensur durch die Staatsmacht, welche es unter Präsident Kutschma gab und die Anweisungen aus der Präsidialadministration, die Temniki, dürften nicht durch die Herrschaft des Geldes und dessen Zensurfunktion abgelöst werden.

 

So wichtig und berechtigt der Protest der Kiewer Journalisten war; schaute man sich die zeitgleichen Propagandaorgien in den gleichgeschalteten großen Massenmedien Russlands an, der Führerkult der dort betrieben wurde und die Inszenierung von "Wahlen", die keine wirklichen Wahlen waren, begriff man den Unterschied in der Entwicklung beider Länder.

 

Nationale und internationale Wahlbeobachter, welche am 30. September das Wahlgeschehen in der Ukraine verfolgten, bewerteten die Parlamentswahlen als frei und im wesentlichen fair und demokratisch. Für Russland musste man das Gegenteil konstatieren und es hatte seine guten Grund, dass nach monatelanger Blockade ihrer Vorbereitungen, die Wahlbeobachter der OSZE ihre Teilnahme verweigerten.

 

Nach dem mehr als knappen Sieg der orangenen Kräfte bei den Parlamentswahlen, der einen erneuten Kräftezuwachs für die Partei Julia Tymoschenkos zeigte, die sich in der nahezu gesamten West- und Zentralukraine als stärkste Kraft profilierte, hielten sich Hoffnung und Verunsicherung die Waage. Sollte man angesichts des nahezu Gleichgewichts der Lager, nicht doch erneut auf eine große Koalition oder eine direkte Machtbeteiligung der Janukowytsch -Seite zugehen? Staatspräsident Viktor Juschtschenko, der nach den bitteren Erfahrungen seines letzten Kompromissversuches einen solchen Weg ausgeschlossen hatte und versicherte „eisern hinter seiner Mannschaft zu stehen, machte seinem Ruf als ewiger Zauderer und ukrainischer Hamlet wieder einmal alle Ehre. Mit seine Appelle zur nationalen Einigung versuchte er erneut einen eher vordemokratischen Spagat.

 

Kein Geringerer als der ehemalige amerikanische Präsidentenberater und Freund der Ukraine Zbigniew Brzezinski warb hier für eine andere Qualität. Wenige Tage nach dem Ausgang der Parlamentswahlen, sprach er auf einer internationalen Tagung, welche den Beziehungen zwischen der Ukraine und der europäischen Union gewidmet war, über die historische Bedeutung der Entwicklung welche der "ältere Bruder" Russlands in den letzten Jahren durchmache. Europa müsse seine Vorstellung und Vision von Osteuropa korrigieren, um den Stellenwert der Veränderungen richtig wahrzunehmen. An die Adresse der ukrainischen Politiker richtete er freundschaftlich – diplomatisch verpackte Empfehlungen. So sei es an Juschtschenko, bei aller Bereitschaft zum Kompromiss, kein Verwischen und Verdunkeln von Verantwortung, keine Vermischung der Rollen von Regierung und Opposition zuzulassen. Julia Tymoschenko, die bereits jetzt eine nationale Führungsrolle spiele könne sich als konstruktive Reformpolitikerin bewähren, die nicht nur Härte und Durchsetzungsvermögen zeige. Viktor Janukowytsch schließlich, als dritter der derzeit wichtigsten ukrainischen Politiker, habe jetzt die Chance sich als verantwortlicher Führer der Opposition zu profilieren. Damit würde er zwar nicht die Rolle spielen, welche ein großer Nachbar der Ukraine sich erhofft habe, könne aber als politische Führungsfigur vom Vorstoß der Ukraine in Richtung Europa partizipieren. Gegenüber der Ukraine könne man sich endlos über die zu lösenden Probleme die zu erfüllenden Kriterien und Standards auslassen, es gäbe jedoch eine positive Eigendynamik, die nicht aufzuhalten sei, merkte Brzezinski zum Schluss an. Irgendwann werde Russland nur noch die Wahl haben, dem Beispiel der Ukraine auf dem Weg zur Demokratie zu folgen. Manch einem Teilnehmer der Konferenz dürfte bei solchem historischen Optimismus die Luft weggeblieben sein.

 

Als im Dezember die russischen gelenkten Dumawahlen das gewünschte Ergebnis brachten und sich der alte und neue Zar Wladimir Putin auf seine nächste Aufgabe vorbereitete, kam es in Kiew nach schwierigen Wochen einer Koalitionsbildung, zur Wahl der Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko. Von der Qualität ihrer Reformpolitik wird es abhängen, welche der zahlreichen Prognosen über die künftige Entwicklung im osteuropäischen Raum sich erfüllt.

 

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