Es begann mit Solidarnosc
Mauerfall
1989 gab es zwar keine Barrikaden. Der Umsturz war trotzdem eine europäische Revolution
aus: Rheinsicher Merkur, 11/2008
Knapp zwanzig Jahre nach dem Epocheneinschnitt des Jahres 1989 geben das Selbstverständnis der unmittelbaren Akteure und die bisherigen Arbeiten der Historiker sehr verschiedenen Deutungen Platz. Der System- umbruch im Ostblock und das Auseinanderbrechen des sowjetischen Im- periums wird von den einen als Sieg des militärisch und ökonomisch über- legenen Westens über den hochgerüsteten kommunistischen Systemgegner gedeutet; andere sehen darin den selbstinitiierten Rückzug der Sowjetunion im Zeichen von Glasnost und Perestroika. Die Architekten der westlichen Entspannungspolitik, Diplomaten und Politiker, reklamieren ihren Anteil am Fall des Eisernen Vorhangs. Vokabeln vom „friedlichen Einschlafen des Kommunismus“, dem „Zusammenfall eines Kartenhauses“ und das deutsche „Zauberwort“ der Wende beziehen sich auf den friedlichen Charakter und die Schnelligkeit der Ereignisketten, die vom polnischen Runden Tisch über die Öffnung des ungarischen Grenzzaunes bis zum Fall der Mauer das Geschehen bestimmten. Das wirft die Frage auf: War 1989 eine Revolution?
Opposition und Widerstand in allen Ländern des Ostblocks und die Kraft der zivilen Massenproteste, die mit dem Entstehen der polnischen Solidarnosc-Bewegung das kommunistische System erschütterten, geraten in einer auf Regierungshandeln, diplomatische Manöver und den Selbstlauf des inneren Verfalls fixierten Sicht leicht zu Begleitphänomenen. Ihr tatsächliches Gewicht, das den Umbrüchen des Jahres 1989 revolutionären Charakter verleiht, erschließt sich durch den Rückgang auf zurückliegende historische Zäsuren der Ostblockgeschichte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es der sowjetischen Seite, Staaten des östlichen und mittleren Europas ihr kommunistisches Entwicklungsmodell aufzuzwingen. Der Eiserne Vorhang und der Kalte Krieg schlossen sie vom westlich-demokratisch geprägten Wiederaufbau und der europäischen Integration der Nachkriegszeit aus. In der Phase des Hochstalinismus wurde das kommunistische Umformungsexperiment mit ungezügelter Brutalität durchgesetzt. Gesellschaftlicher Widerstand wurde mit Massenterror gebrochen.
Ein Datum wie der 17. Juni 1953 in der DDR und der Ungarnaufstand des Jahres 1956 markierten die Aussichtslosigkeit klassischer Aufstände, die Bereitschaft der Sowjetunion, ihr Herrschaftsgebiet zu sichern und die zähneknirschende Bereitschaft des Westens, die Teilung zu akzeptieren. Auf Öffnung und Liberalisierung gerichtete Reformbestrebungen, die in der Tauwetterperiode nach 1956 aus dem Inneren einzelner Gesellschaften kamen oder wie im Prager Frühling 1968 von der Kommunistischen Partei selbst ausgingen, mussten ebenso scheitern.
Das Modell einer Kommandowirtschaft – auf politische Unterdrückung und Privilegien für eine Nomenklatura begründet und durch den Bindungsfaktor der kommunistischen Ideologie zusammengehalten – bewies seine Unreformierbarkeit. Sobald am Machtanspruch der herrschenden nationalen Parteien gerührt wurde, sobald Moskau seine Oberhoheit gefährdet sah, kamen Panzer und massenhafte Repressionen zum Einsatz.
Die Erfahrungen gescheiterter Aufstände und Reformbestrebungen und das endgültige Verblassen der Illusionen eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zwangen in den 1970er-Jahren in den wichtigsten Ländern des Ostblocks eine neue kritische Generation zum Umdenken. Eine Generation, die sich im polnischen „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR), der tschechischen „Charta 77“, der ungarischen demokratischen Opposition und den sowjetischen Bürgerrechtsgruppen zu Wort meldete. Mehr als moralische und marginale Bedeutung mochte man dieser neuen Opposition im Westen nicht geben.
Erst mit dem Entstehen der polnischen unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc im Sommer 1980, die binnen weniger Monate zur politischen Massenbewegung wurde und auch durch die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 nicht mehr aufzuhalten war, änderte sich das Bild. Von den Oppositionellen im gesamten Ostblock wurde die Solidarnosc als Anfang vom Ende des kommunistischen Systems gesehen, als die Chance seiner friedlichen Überwindung, die dennoch eines jahrelangen Kampfes bedurfte.
Die Etappen dieses Kampfes prägten die letzten Jahre vor 1989, führten zur immer stärkeren internationalen Zusammenarbeit der Oppositionellen und dem Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit. So unterschiedlich die Bedingungen in den einzelnen Ländern des Ostblocks auch sein mochten, so sehr die Stärke der einzelnen Oppositionsbewegungen auseinanderging, sie konnten aufeinander aufbauen und sich wechselseitig ermutigen. Aus dieser Perspektive wurden Gorbatschows Glasnost und Perestroika als Rückzugsgefecht begriffen, das den friedlichen Charakter des Umbruchs ermöglichte.
1989 entzieht sich zahlreichen Kriterien einer klassischen Revolution, weil der Kampf um freie Wahlen entscheidender wurde als die militante Eroberung der Macht. Aber es war ein Kampf um die Macht, die die herrschenden Kommunisten nicht freiwillig abgaben, sondern erst, als sich in Warschau, Budapest, Prag, Leipzig und Berlin die Menschen nicht mehr von den Straßen prügeln ließen. Sie forderten ihr Recht auf Freiheit, nationale Souveränität und eine „Rückkehr nach Europa“ ein. Die Kraft und Wirkung dieser Proteste lässt die Ereignisse von 1989 zu einer europäischen Befreiungsrevolution werden.