Endgültiges Aus für Orange? Die Ukraine nach den Präsidentschaftswahlen
aus: Kommune, April/Mai 2010
Von Wolfgang Templin
Bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine wurden die Hoffnungsträger der orangenen Revolution abgewählt. Sie unterschätzten Janukowytsch und erhielten eine Quittung für Korruption und Vetternwirtschaft, von der auch der Gwinner nicht frei ist. Doch der konnte mit einem neuen Image gewinnen, indem er sich Europa-zugenwandt gab, zugleich die Anti-Nato-Stimmung aufgriff und geschickt die Widersprüche im Lager der Orangenen ausnutzte.
Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, ist berüchtigt für Pöbeleien und Prügelszenen zwischen Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen. Besetzungen und Blockaden der Rednertribüne gehören zum parlamentarischen Alltag. Zu Beginn des letzen Jahres, Monate vor den Präsidentschaftswahlen, kam die Arbeit des Parlaments fast völlig zum Erliegen. Eine instabile Regierungskoalition machte es Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko unmöglich notwendige Gesetzesvorhaben durch das Parlament zu bringen und normale Regierungsarbeit zu leisten. Im Dezember 2007 hatte sie im Ergebnis vorgezogener Parlamentswahlen eine orangene Regierungskoalition aus den Abgeordneten ihres Blocks Julia Tymoschenko (BJUT) und dem Parteienblock Juschtschenkos„Unsere Ukraine - Nationale Selbstverteidigung“ gebildet. Die „Partei der Regionen“ mit Viktor Janukowitsch, dem Verlierer der Präsidentschaftswahlen von 2004, ging in die Opposition.
Wer damals hoffte, dass es endlich zu den immer wieder versprochenen Reformanstrengungen und Modernisierungsschritten käme, wurde enttäuscht. Treue- und Loyalitätsschwüre zwischen den Symbolgestalten der Majdanrevolution hatten auch dieses Mal ein kurzes Verfallsdatum. Binnen kürzester Zeit brach die alte Rivalität wieder aus und paralysierte die Zusammenarbeit von Parlament, Regierung und Präsidenten. Juschtschenko verfolgte seine Konkurrentin um das Amt des Präsidenten mit geradezu manichäischem Haß und warf ihr Knüppel zwischen die Beine, wo er nur konnte.
Julia Tymoschenko war wie alle führenden ukrainischen Politiker auf Wirtschaftsgrößen und Oligarchen angewiesen, die sie unterstützen und deren Interessen sie berücksichtigen musste. Als 2009 die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise die Ukraine mit voller Wucht trafen, begegnete man ihren Bemühungen dem gegenzusteuern mit parlamentarischer Destruktion. Um ihre Wahlchancen zu verbessern und nicht für alle Auswirkungen der Krise verantwortlich gemacht zu werden, wollte Tymoschenko zurücktreten. Von Oligarchen ihrer Umgebung wurde sie dazu bewegt zu bleiben, weil diese bei Demission der Ministerpräsidentin um ihre Pfründen fürchteten.
Die Auswirkungen der Krise traf die Ukraine besonders hart. Das Bruttoinlandsprodukt ging um 14 Prozent zurück und der Hrywna, die ukrainische Währung wurde um fast ein Drittel abgewertet. Dieser Währungsverfall wurde zur Katastrophe für alle diejenigen, welche in den Jahren des Aufschwungs Kredite in Euro oder Dollar aufgenommen hatten. Entweder konnten sie die Kredite nicht mehr bedienen oder sie mussten sie zu sehr ungünstigen Konditionen abbezahlen. Bis heute stehtdie Ukraine am Rand des Staatsbankrotts und kämpft um internationale Unterstützung.
Wer stand sich nun um die Jahreswende 2009/10 im Wahlkampf um das Amt des Staatspräsidenten gegenüber? Viktor Juschtschenko war der Hoffnungsträger der Revolution in Orange . Als ehmaligen Ministerpräsidenten einer kurzzeitigen Reformregierung unter Staatspräsident Leonid Kutschma, als Finanzexperten und Chef der Nationalbank traute man ihm im Bündnis mit der zweiten Galionsfigur des Majdan Julia Tymoschenko zu, die demokratische Ukraine auf einen erfolgreichen Reformkurs zu führen. Der Weg nach Europa schien offen. Den Monaten der Hoffnung und Euphorie folgten die ersten Zerwürfnisse und Konflikte. An die Stelle einer konsequenten Reformarbeit traten interne Machtkämpfe. Im Hintergrund zogen Clans von Oligarchen und Cliquen politischer Höflinge die Fäden.
Person und Charakter Juschtschenkos hatten einen wichtigen Anteil an Stillstand und Niedergang. 2004 nur knapp einem Giftanschlag seiner politischen Gegner entgangen, mit dem unaufgeklärten Mord an dem Journalisten Gregorij Gongadze und dem staatskriminellen Erbe der Kutschma-Ära konfrontiert, versäumte er es konsequent durchzugreifen. Mit einer „ kalten Amnestie“, einem internen Stillhalteabkommen mit seinen Gegnern, strebte er deren Duldung an, zog sich aber nur Verachtung zu. Vom Charakter her eher nachgiebig , scheute er davor zurück, den Augiasstall ukrainischer Politik gründlich auszumisten. Seine Stärke waren Internationale Auftritte und Symbolpolitik . Das steinige Feld notwendiger institutioneller Reformen des Verwaltungsapparates und der Justiz, die durchgreifende personelle Erneuerung des Sicherheitsapparates und des korrupten Innenministeriums mied er. Juschtschenko wich auf das Feld der Geschichtspolitik aus. Er wollte der Nation traditionelle patriotische Werte vermitteln, ein historisches Bewusstsein formen, welches sowjetischen und postsowjetischen Geschichtslegenden inhaltlich entgegenstand, ihnen in Monumentalismus und Formensprache jedoch frappierend ähnelte. Eine vereinigte ukrainische Kirche sollte die geistige Gesundung der Nation befördern.
In der gleichen Zeit ließ er es zu, dass ein Kreis von „lieben Freunden“, nahen Oligarchen und politischen Günstlingen in seiner unmittelbaren Nähe, erneut Pfründe verteilte und unverhohlene Vetternwirtschaft betrieb. Den von Zensur befreiten Medien und einer kritischen Öffentlichkeit blieb das alles nicht verborgen. Juschtschenkos Resistenz gegen Einspruch und Kritik, sein zunehmender Autismus, der Rückzug in historische Parallelwelten, ließen seine anfänglich hohen Unterstützungswerte ins Bodenlose stürzen.
Anders sah es bei Julia Tymoschenko aus. Ihre Herkunft aus dem ostukrainischen Dnipropetrowsk immunisierte sie gegen den traditionellen Nationalismus, wie ihn Juschtschenko verkörperte . Machtbewusst und pragmatisch, inszenierte sie sich als ukrainische Patriotin, die in allen Teilen des Landes zu wirken verstand. Ihr Parteiblock Bjut war im Unterschied zum lockeren Parteienbündnis des Präsidenten vom Führerinnenprinzip und strikten Gefolgschaftsdenken bestimmt. Selbst ihre Kritiker sprachen von ihr als dem „einzigen Mann im ukrainischen Parlament“. Sie galt als verbissene Arbeiterin , die zu Dirigismus neigte, populistische Töne nicht scheute und durch ihre Vorgeschichte als Gasoligarchin mit allen Finessen der ukrainischen und russischen Geschäftswelt vertraut war.
Bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise und ihren Auswirkungen auf die Ukraine, schien ihr die künftige Präsidentschaft nahezu sicher. Juschtschenkos Stern war im steten Sinken und ihr alter Gegner Viktor Janukowytsch galt als verbrannt. Dieser versuchte nach Kräften seinen Ruf als Wahlfälscher und „Donezker Bandit“ abzustreifen und sich als Politiker für alle Ukrainer_innen zu präsentieren. Er umgab sich mit neuen Beratern, lernte, wenn auch mühsam ukrainisch und war um europafreundliche Töne bemüht. Die Distanz zur NATO des größten Teils der Bevölkerung nutzte er undsprach von einer Bündnisfreiheit der Ukraine. Gleichzeitig betonte er den Vorrang der europäischen Perspektive.
In seiner Partei der Regionen haben ostukrainische Oligarchen und Industriemagnaten das größte Gewicht. Für sie sind gute Beziehungen zu Russland wichtig und ihre Zukunft sehen sie in Europa. An ihrer Verwandlung von Mafiapaten zu soliden Industriellen und Kunstmäzenen haben sie erfolgreich gearbeitet. .
Für viele Ukrainer_innen blieb er die bloße Marionette seiner mächtigen Hintermänner. Andere sahen ihn selbständiger, gestanden ihm die Läuterung zu und schenkten seinen sozialen Appellen an die Adresse der kleinen Leute Glauben. In den Zustimmungswerten arbeitete er sich an Julia Tymoschenko heran. Als Oppositionsführer zog er an ihr vorbei, je stärker sich die Folgen der Krise zeigten.
Unter den vielen Kandidaten, die sich zur Wahl des Staatspräsidenten stellten, , ragten einzig zwei Personen hervor, denen man neben den Favoriten größere Chancen gab. Im Westen oft als neue Gesichter bezeichnet, waren beide seit langem durch tausend Fäden mit dem ukrainischen Politikbetrieb verbunden.
Arsenij Jazeniuk, der eine Laufbahn als Wirtschaftsjurist und Fachpolitiker hinter sich hatte, ging mit einer populistischen Mischung aus liberalen und sozialdemokratischen Inhalten in das Rennen und warb für eine „Ukraine der Erneuerung“. Unter dem Einfluss falscher Berater, baute er sich jedoch anschließend als Putin-Light auf, der das Land mit eiserner Faust zur Ordnung bringen wollte. Mit diesem Angebot des eher blassen Technokraten, fielen seine anfangs ansehnlichen Werte ins Unbedeutende.
Serhij Tihipko konnten nur Ukrainer_innen mit extremem Kurzzeitgedächtnis für einen politischen Neuling halten. Der gekonnt auftretende Geschäftsmann, der mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und persönlicher Ausstrahlung für sich warb, hatte im Herbst 2004 den Wahlkampfstab von Viktor Janukowytsch geleitet. Er sprang im letzten Moment von Bord, nahm eine politische Auszeit und verwandelte sich in einen erfolgreichen Geschäftsmann und Multimillionär. Anders als Jazeniuk gelang es Tihipko, einen nicht unbeträchtlichen Teil der frustrierten oder unentschlossenen Wählerschaft anzusprechen.
Nach einem Wahlkampf, den die meisten Beobachtern als langweilig und inhaltsarm empfanden, setzte am Abend des 17.Januar die Auszählung der Stimmen des ersten Wahlgangs ein. Als der nationale Exit-Poll einen nur knappem Vorsprung für Viktor Janukowytsch signalisierte, gab sich Julia Tymoschenko siegesgewiss, denn sie hoffte in der Stichwahl am 7. Februar auf zusätzliche Wählerstimmen. „Die Hand dieses Verbrechers wird nicht nach dem heiligen Evangelium greifen“, rief sie um Mitternacht pathetisch in die Fernsehkameras. Juschtschenko hatte seinen Amtseid als Präsident auf ein gewaltiges, urtümliches Exemplar der ukrainischen Bibel abgelegt und damit eine Zeitenwende signalisiert.
Der nächste Morgen zeigte, wie verfrüht Julias Tymoschenkos Optimismus war. Sie lag mit knapp zehn Prozent hinter dem führenden Janukowytsch, der über 35 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Staatspräsident Juschtschenko hatte die negativsten Prognosen für ihn nur knapp überschritten und war mit etwas über fünf Prozent völlig aussichtslos geschlagen. Das Zünglein an der Waage konnte Serhij Tihipko werden , der auf fünfzehn Prozent der Stimmen kam. In den folgenden Wochen buhlten Tymoschenko und Janukowytsch mit gleicher Intensität um Tihipkos Wählerstimmen .
Julia Tymoschenko hatte in vorangegangenen Wahlkämpfen unter Beweis gestellt, dass sie bis zum letzten Moment kämpfen und auch siegen konnte. Diesmal jedoch beging sie den Fehler, nicht als verantwortungsvolle Sachpolitikerin aufzutreten, sondern beschimpfte ihren Gegner und dessen Verbrecherkartell immer hysterischer. Die Wähler_innen wussten aber, dass auch sie nicht frei von Korruption war. Während internationale Beobachter bereits den ersten und den zweiten Wahlgang als im wesentlichen demokratisch und fair einschätzten, beschuldigte sie e die Gegenseite massiver Wahlfälschungen.. Ihren letzten zentralen Wahlkampfauftritt verwandelte sie in ein miserabel inszeniertes zehnminütiges „Gebet für die Ukraine“. Auf der anderen Seite des riesigen Platzes dröhnte von der für Janukowytsch errichteten Tribüne russisch-ukrainische Popmusik.
Viktor Juschtschenko Auftritte in dieser Zeit wurden immer absurder. Er erklärte sich zum Messias, der seine Mission für die Ukraine von Gott erhalten habe. Kein Urteil seiner Landsleute könne ihn in den Werten beirren, die er damit verbände. Als eine seiner letzten Amtshandlungen, verlieh er dem in terroristischen Aktivitäten verstrickten und 1959 im politischen Exil ermordeten politischen Führer der ukrainischen Widerstandsbewegung OUN-UPA Stepan Bandera, den Titel „Held der Ukraine“. Damit sicherte er sich den Beifall rechtsgerichteter ukrainischer Nationalisten, brachte aber den liberalen Teil der Öffentlichkeit und die gesamte Ostukraine noch weiter gegen sich auf.
Während der drei Wochen bis zum 7.Februar traten in den Medien viele politische Auguren auf, die in ellenlangen Stellungnahmen und stundenlangen Diskussionsrunden alle möglichen Resultate der Stichwahl durchgingen. Für die Einen war die Entscheidung zwischen Tymoschenko und Janukowytsch eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Für andere blieb Tymoschenko immer noch das geringere Übel, während Dritte bereits eine höhere ökonomische oder geopolitische Rationalität bemühten, die für Janukowytsch spräche.
In den gleichen Medien ertönten Stimmen aus der Bevölkerung, die alle Politiker verfluchten und den Sumpf der Korruption beklagten. An Juschtschenko erging die Empfehlung, sich endlich seinen Bienen und Steinen zu widmen, der Hobbyimker und Amateurarchäologe richte dort den geringsten Schaden an. Man konnte diese Stimmen als Ausdruck einer politischen Krise in der Ukraine deuten, zugleich drückten sie aber etwas aus, was in der „ gelenkten Demokratie“ eines Wladimir Putins unmöglich war. So sehr es zahlreichen ukrainischen Medien an Niveau fehlt und so stark sie finanziellen Einflüssen unterliegen –man spricht von gekauften Artikeln und TV Reportagen – so undenkbar ist eine politische Kontrolle und Steuerung, wie in Russland. Ernüchterte und verbitterte Leser_innen und Hörer-innen machen ihrer Wut und Empörung ohne Angst Luft, während Initiativen der Zivilgesellschaft, wie die Frauengruppe „Femen“ mit phantasievollen Aktionen die politische Unkultur geißeln. Der in Form und Inhalt kritisierte Konkurrenzkampf innerhalb der politischen Eliten beförderte immerhin einen wenn auch rohen und ungefügen aber tatsächlich vorhandenen Pluralismus.
Wenn in der internationalen Berichterstattung ukrainische Stimmen zitiert werden : “Gehen Sie zum Teufel mit dieser Demokratie, wir brauchen Ordnung und eine starke Hand“, wird oft übersehen, dass es bei diesen Forderungen nicht um die Machtvertikale russischen Vorbilds geht. Gefordert wird ein starker, handlungsfähiger Staat, der sich um die Belange seiner Bürger kümmert und die grassierende Seuche der Korruption eindämmt.
Am Abend des 7.Februar belagerte die Presse die Wahlkampfzentren von Julia Tymoschenko und Viktor Janukowytsch in zwei dicht beieinanderliegenden Kiewer Luxushotels. Erst kurz vor Mitternacht, verdichtete sich das Ergebnis eines Vorsprungs von drei Prozent für Viktor Janukowytsch. Julia Tymoschenko und ihre Vertreter stellten das Ergebnis der Wahlen sofort in Frage, sprachen von massiven Wahlfälschungen im Osten der Ukraine, die bis zu mehreren Millionen Stimmen ausmachen würden. Internationale Wahlbeobachter stellten diese Zahlen in Frage, kritisierten die zwischen den Wahlgängen vorgenommenen Änderungen des Wahlrechts und einzelne Unregelmäßigkeiten der Wahl. Insgesamt beurteilten sie die Wahlen als demokratisch und fair.
Anstatt sofort die Konsequenzen zu ziehen und ihre Oppositionsrolle anzunehmen, drohte Julia mit einer Wahlanfechtung vor den Gerichten. Sie setzte darauf, die Amtseinführung des Staatspräsidenten und die mit der neuen Machtkonstellation ermöglichte Regierungsumbildung auf lange Zeit hinauszögern zu können oder vorgezogene Neuwahlen bewirken zu können. Auch dabei verrechnete sie sich, wie die folgenden Wochen zeigten.
Janukowytsch konnte seinen Wahlsieg in keiner Weise als Triumph ansehen. Er hatte sich nach dem Ausgang des ersten Wahlgangs erhofft, den deutlichen Vorsprung vor seiner Konkurrentin zu unterstreichen und sah sich nur knapp vor ihr durchs Ziel gehen. Im Unterschied zu allen ukrainischen Staatspräsidenten vor ihm, hatte er nicht die absolute Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinigt, was die andauernde Polarisierung des Landes dokumentierte und ihn vom ersten Moment an zu Vorsicht und Rücksichten zwang.
Trotz deutlich anderslautender russischer Wünsche lenkte er seinen Auslandsbesuch als Staatspräsident nach Brüssel und ließ sich erst anschließend in Moskau vom Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche zum „Statthalter für Kleinrussland salben“, wie es sarkastische Kommentatoren formulierten.
Jeder der sich mit dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen Stabilität oder einen Brückenschlag zwischen den verfeindeten Lagern erhoffte, verkannte die Verhältnisse in der Ukraine. Unbegründet war wiederum jede Befürchtung, in der Ukraine könne es zur Restauration postsowjetisch-autoritärer Verhältnisse kommen. Janukowytsch hatte seinen Willen dokumentiert, erneut die Macht an sich zu reißen und dafür auch schmutzige Mittel einzusetzen. Seine folgenden Schritte und Manöver zeigten jedoch die Unmöglichkeit, dies auf alte Weise zu tun.
Mit dem Urteil der internationalen Beobachter schien klar, dass der Wahlanfechtung vor dem Obersten Ukrainischen Gericht kein Erfolg beschieden sein dürfte. Julia Tymoschenko zog die eingereichte Klage dann auch wieder zurück, es kam zur Amtseinführung von Janukowytsch, der sich als Staatspräsident einer weiterhin amtierenden Ministerpräsidentin gegenübersah, die nicht daran dachte das Feld zu räumen.
Um Missbräuchen, das heißt dem Kauf von einzelnen Abgeordnetenstimmen entgegenzutreten, gab es im ukrainischen Parlamentsgesetz eine Festlegung, die auch in der ukrainischen Verfassung verankert ist. Danach konnten nur ganze Fraktionen zu einer neuen Mehrheit beitragen und dadurch die Abwahl und Neuwahl der Regierung bewirken. Als der Versuch der Janukowytsch- Seite fehlschlug, den Parteiblock Juschtschenkos auf ihre Seite zu ziehen, griffen dessen Strategen zu einem verfassungswidrigen Trick. Durch eine Veränderung des Parlamentsgesetztes wurde es einzelnen Abgeordneten möglich, individuell in eine neue Koalition einzutreten. Stimmenkauf und Abwerbung funktionierten in bewährter Weise, so dass sich Tymoschenko sehr schnell in der Opposition fand. Bereits in der zweiten Märzwoche konnte der Staatspräsident ein neues Kabinett präsentieren, an dessen Spitze sein alter Vertrauter und Vasall, der Finanzexperte Nikolai Azarow steht. Der hatte bereits unter Leonid Kutschma als Chef der Steuerpolizei gedient und diesem mit den Methoden krimineller fiskalischer Erpressung zu Wahlerfolgen verholfen. Die weitere Verteilung der Kabinettsposten , darunter allein fünf stellvertretende Ministerpräsidenten zeigt jedoch, welchen Kompromisscharakter auch dieser Scheinbare Durchmarsch alter Kräfte trägt. Die Interessenlagen konkurrierender Clans von Oligarchen mussten berücksichtigt werden, es wurden einige unverbrauchte Technokraten gesucht, Beteiligte am Manöver der forcierten Regierungsneubildung wollten bedacht sein. Potentielle Gegner und Konkurrenten, waren einzubinden. Serhij Tihipko, der noch kurze Zeit vorher, lautstark die Banditenmethoden der Partei der Regionen anprangerte, findet sich als einer der stellvertretenden Ministerpräsidenten auf der Liste.
Die bittere Feststellung des Schriftstellers Jury Andruchowytsch: „So brutal wie unsere Politiker sind, werden wir noch einige Jahre im Dreck stecken“ dürfte das Dilemma der Ukraine im Kern treffen. Er sieht den Aufbruch der Majdanrevolution als Beginn eines langen und mühseligen Reformweges. Im gleichen Interview beschreibt er jedoch, wie stark die Signale von 2004 mittlerweile die junge Generation selbst im Osten der Ukraine erreichen. Für den gelingenden Brückenschlag zwischen dem Westen und Osten des Landes stehen weder Viktor Juschtschenko, noch Julia Tymoschenko, noch gar Viktor Janukowytsch. Er wird von neuen Gesichtern und einer anderen Generation bestimmt sein, die mit den Kräften der zivilen Gesellschaft verbunden ist und sich moderne gemeinsame Werte schafft, die an Europa heranführen.