Anlauf zum dritten Sprung

aus: Rheinischer Merkur Nr. 38 2007

 

 

Ukraine - Vor der Parlamentswahl Ende September scheint das orangene Bündnis ausnahmsweise zusammenzuhalten. Das ist die Leistung seines Spitzenkandidaten Juri Luzenko

 

Cierna nad Tisou, der Name dieser slowakischen Grenzstation weckt Erinnerungen. Hierhin wurden Alexander Dubcek und seine Reformkommmunisten von Leonid Breschnew zu letzten Gesprächen einbestellt, kurz bevor die Panzer im August 68 durch Prag rollten. Was hat dieser Ort mit dem Wahlkampf in der heutigen Ukraine zu tun? Wer von Berlin nach Uschgorod will, Hauptstadt der ukrainischen Transkarpatenregion, findet sich im Zug nach Prag, Bratislava, Kosice und Cierna wieder, wird von alten Erinnerungen eingeholt, bevor er in der modernen Realität ankommt.

Uschgorod, Lviv/Lemberg und Ivano-Frankivsk sind an diesem Wochenende, vierzehn Tage vor dem Wahlgang am 30.9. die Hauptorte der Wahlkampftour des Präsidentenblocks "Unsere Ukraine-Nationale Selbstverteidigung". Der zweite Teil des Namens verweist auf die Partei Juri Luzenkos – und das mit Recht. Der Mann ist ein Energiebündel, im Gegensatz zur Weitschweifigkeit zahlreicher seiner Politikerkollegen bleibt er knapp und konkret, Spitzenkandidat und Zugpferd des Präsidentenblocks. Acht Monate nahezu ununterbrochener Reisen durch alle Teile des Landes sind ihm höchstens an der heiseren Stimme anzumerken.

Als im Januar dieses Jahres immer klarer wurde, dass sich die Lager von Präsident Juschtschenko und der Regierungskoalition um Premierminister Janukowitsch unheilbar zerstritten hatten, war es Luzenko, der den Gordischen Knoten durchschlug. Der langjährige Oppositionelle und zwischenzeitige Innenminister, einst Mitglied der Sozialisten, gründete zur Verteidigung der "Werte des Majdan“ seine zivile Widerstandsbewegung. Im März erwachte Juschtschenko aus der Depressionsstarre und setzte schließlich vorgezogene Neuwahlen durch. Seine persönlichen Zustimmungswerte kletterten sprunghaft in die Höhe. Mit Luzenkos Hilfe vermochte er insgesamt neun kleinere Parteien mit dem Präsidentenblock zusammenzuschmieden.

Nun stehen dessen Spitzenkandidaten auf den Marktplätzen in der Westukraine, dem traditionsbewussten und patriotischen Stammland der Orangenen. Von hier rollten die ersten Fahrzeugkolonnen und Busse in Richtung Kiewer Majdan, hier hatte die demokratische und nationale Bewegung bereits vorher ihre festesten Wurzeln. Luzenko, der aus dem nordwestukrainischen Wolhynien stammt und in Lviv studierte, ist deren Befindlichkeiten bestens vertraut.

 

Reizthema Korruption

 

Die Großauftritte folgen stets derselben Regie. Ein Banduraspieler und Sänger, Symbol der ukrainischen Liedkunst eröffnet oder beschließt den Abend, populäre ukrainische Musikgruppen gehören als Teil der Majdanbewegung dazu. Trommelwirbel kündigen die Kandidaten an, die von einem Moderator vorgestellt werden. Unter den ersten Zehn sind der Parteivorsitzende von Unsere Ukraine Kirilenko, der populäre Verteidigungsminister Gritsenko und eine populäre Fernsehjournalistin. Als Höhepunkt betritt Luzenko die Bühne. "Wir haben aus unseren Fehlern gelernt und wissen, dass es jetzt um den entscheidenden, erneuten und vielleicht letzten erfolgreichen Anlauf geht“ – das ist seine zentrale Botschaft. Schon zweimal sind die Kräfte des orangenen Lagers an Zerstrittenheit, Profilierungssucht und unsauberen Geschäften gescheitert. Unfreiwillig bereiteten sie ihrem Kontrahenten, dem postsowjetischen Viktor Janukowitsch, den Weg zurück an die Hebel der Macht. An dessen einjähriger Regierungszeit demonstriert Luzenko nun, was die Ukraine bei einer weiteren Niederlage der Reformkräfte erwarten würde: proeuropäische Rhetorik bei faktischer Anlehnung an Russland, der Sieg alter und neuer Seilschaften, die ostukrainischen Oligarchen eingeschlossen.

 

Korruption ist Luzenkos zentrales Thema. Er fordert eine Antikorruptionsbehörde, die Offenlegung aller Einkünfte und Vermögensverhältnisse von Politikern und hohen Staatsbeamten, die Möglichkeit, die Abgeordneten-Immunität bei schweren Vergehen aufzuheben. Das ist heute nicht möglich, weshalb die 450 Sitze im Parlament eine Fluchburg für Kriminelle aller Art darstellen. Luzenko weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer der Kampf mit dieser Hydra ist. Er stand als Innenminister dem durch und durch korrupten Polizeiapparat vor. Bei seinen Bemühungen der Säuberung stieß er schnell an seine Grenzen. Von den über 2000 Strafverfahren, die er gegen belastete Personen initiierte, wurden die allermeisten von der Generalstaatsanwaltschaft nicht bearbeitet. „Ohne durchgreifende Justiz- und Gerichtsreform unter Einschluss der Staatsanwaltschaften, strikte Kontrolle der Sicherheitsdienste, müssen alle anderen Reformanstrengungen stecken bleiben“, sagt er heute.

 

In Lemberg wird die ukrainische Hymne mit besonderer Intensität gesungen. Juschtschenko hat hier seinen Platz im zweiten Dutzend der gemeinsamen Liste, tritt präsidial auf, unterstützt seine Wahlkämpfer aber nach Kräften. Bei aller Vielfalt der Themen, die er berührt, rückt er den Gedanken einer künftigen gemeinsamen Partei aller Kräfte des gegenwärtigen Bündnisses in den Mittelpunkt. Unterstützt vor Luzenko, entwirft er das Bild einer künftigen stabilen liberaldemokratischen Partei europäischen Zuschnitts. Im Wahlkampf und darüber hinaus, soll es eine stabile Kooperation mit der selbständigen und sehr eigenwilligen Julia Tymoschenko geben. Die Möglichkeit einer Großen Koalition mit Janukowitschs Partei der Regionen schließt Juschtschenko kategorisch aus. Diese Option hatte das Präsidentenlager bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr förmlich zerrissen.

 

Alles ist offen

 

Damals hatte Tymoschenkos Block Bjut in einem furiosen Endspurt die anderen Reformkräfte in den Schatten gestellt. Wie sie nun abschneidet, ist allerdings eben so ungewiss wie die Perspektive der Präsidentenpartei. Beide Kräfte müssen zusammen stärker als die Kommunisten und die Partei der Regionen sein. Die Sozialisten dürften kaum Chancen haben, die Dreiprozenthürde zu überwinden. Ihr Anführer Moros hatte 2006 das Lager gewechselt und plötzlich Janukowitsch zur Regierungsbildung verholfen – ein Verrat in den Augen vieler Anhänger.

 

In der nationalpatriotischen Hochburg Ivano-Frankivsk, der dritten Station dieser Tour durch die Westukraine, ist die Unterstützung der Orangenen traditionell am höchsten. Das einsame blaue Wahlkampfzelt der Partei der Regionen versinkt im Meer der andersfarbigen Fahnen. Im Osten des Landes, wo Luzenko auch gekämpft hat und Julia Tymoschenko in Dnioropetrowsk ihre Heimatregion hat, sind die Machtverhältnisse jedoch umgekehrt. So ist vor dem entscheidenden Urnengang Ende des Monats alles offen. Wie sagte ein erfahrener ukrainischer Oppositioneller, an die Adresse seiner Mitstreiter: "Mehr als drei Anläufe gibt es selbst im Sport nicht"

 

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