Mit Respekt im Gepäck

Timothy Garon Ashs Reise durch Osteuropa

 

aus: Frankfurter Rundschau 13. Oktober 1999

 

von Wolfgang Templin 

 

Dem breiten Publikum in Deutschland wurde der britische Historiker Timothy Garton Ash, vor knapp einem Jahrzehnt bekannt. In seinem 1990 im Hanser Verlag erschienenen Buch Ein Jahrhundert wird abgewählt. aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1999 ließ er das letzte Jahrzehnt der kommunistischen Herrschaft in Warschau, Budapest, Prag und Ostberlin aus eigener Erfahrung Revue passieren. Er beschrieb das beginnende Erdbeben und damit die Geschichte der demokratischen Opposition in engem Kontakt mit den Akteuren, als Gast in den Küchen und Wohnzimmern der Dissidenten, befreundet mit Vaclav Havel, Adam Michnik und vielen anderen nicht so bekannten Männern und Frauen , die die Freiheitsrevolution von 1989 vorbereiteten.

 

Ohne Prophet zu sein und die Schnelligkeit und Tiefe der bevorstehenden Veränderungen auch nur absehen zu können, stand der Chronist und Historiker Garton Ash, zu einer Zeit auf der Seite der Machtlosen und scheinbaren Verlierer als der Großteil der westlichen Öffentlichkeit und der westlichen Politiker noch auf die reformkommunistischen Rettungsversuche fixiert waren. Das Miteinander von Nähe und Distanz, der freundschaftliche Kontakt zu den „Helden“ seiner Geschichte und die Unbestechlichkeit des Historikers, die Intensität der Beschreibungen und die Qualität der Analyse, ließen sein Buch zum Bestseller und Standardwerk werden.

 

In seiner aktuellen historischen Reise durch das erste Jahrzehnt der Zeit der Freiheit nutzt Garton Ash das beschriebene „Kapital“ seiner vorangegangenen Arbeiten voll aus.

 

Das Buch ist als Geschichte der Gegenwart erneut im "Dreiländereck von Journalismus, Geschichtsschreibung und Literatur" angesiedelt, wie er es selbst in der Einleitung beschreibt. Das macht sein Wagnis und das macht seinen Reiz aus. Reisereportagen wechseln mit Reflektionen, die Konfrontation ehemaliger Verbündeter im oppositionellen Kampf die nun in gegensätzlichen politischen Lagern stehen - Vaclav Havel und Vaclav Klaus, Lech Walesa und Jacek Kuron – wird ebenso eindrücklich geschildert wie die Situation im geschundenen Bosnien und im belagerten Sarajevo.

 

Anders als publizistisch - feuilletonistische Schnellschützen, die ihre osteuropäischen und ostdeutschen Gesprächspartner marktgängig aufbereiteten oder distanziert-akademische Historiker, die am lebenden Objekt wie mit Lupe und Pinzette hantieren, lässt Garton Ash auch in seinem neuen Buch nie den Respekt vor den Beteiligten und Betroffenen vermissen. Er nimmt sie ernst, lässt sich auf sie ein und bleibt daher auch in Analyse und Kritik sympathisch und glaubwürdig.

 

Neben den eindeutigen Gewinnern des Freiheitsjahrzehntes, Deutschen, Polen, Tschechen und Ungarn – den betreffenden Ländern und den teilweise verschlungenen Wegen der ehemals oppositionellen Akteure sind eine Reihe von Kapiteln gewidmet - beschreibt Garton Ash die Situation und die Entwicklung in Ländern und Regionen im Osten und Südosten Europas, die „den Zug zu verpassen drohen“ oder in denen der Zerfall kommunistischer Ordnung zu mörderischen Tragödien führte. Fahrten an die Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine, wo man zwischen Mafia und Grenzschutz kaum noch unterscheiden kann, Reiseberichte aus der ruthenischen Karpatenregion, Momentaufnahmen aus Kroatien, Serbien und Bosnien, sind Mosaiksteine im Buch.

 

Sie fügen sich zusammen, wenn Ash in anderen Kapiteln seine Hoffnungsvorstellungen für ein künftiges Europa umreißt. Die Option für Europa als einer "Ordnung in Freiheit" ist neben den Gedanken zum Verhältnis von Politikern und Intellektuellen in der demokratischen Gesellschaft, zur Bedeutung der Erinnerung und Auseinandersetzung mit der Diktaturvergangenheit und neben Garton Ashs Abwehr eines "retrospektiven Determinismus" in der Zeitgeschichtsschreibung, Teil der in den Gesamttext eingebauten und sicher kontrovers zu diskutierenden Schlussfolgerungen und Reflektionen des Autors. Sie sind eng mit dem "historischen Material" verbunden, rücken politischen, institutionellen und akademischen Selbstgefälligkeiten empfindlich zu Leibe und bleiben bei aller notwendigen polemischen Schärfe einem Duktus freundlicher Ironie verbunden.

 

In diesen Teilen und Passagen lässt sich Ash auch auf die Auseinandersetzung mit den Illusionen und Verklärungen seiner Oppositionsfreunde ein. Wenn er den polnischen Außenminister Bronislaw Geremek in einem Wiener Institut trifft und den einstmals als Historikerkollegen und konsequenten Oppositionellen Geschätzten in diplomatischer Terminologie vernimmt, markiert er das Problem: "Man kann im Laufe eines Lebens Intellektueller und Politiker sein... Beides gleichzeitig geht nicht." Das Dilemma vieler ehemaliger Oppositioneller, dem auch ein Mensch wie Vaclav Havel nicht entgehen konnte, dass das Ethos und die Geradlinigkeit des Dissidenten in den Macht- und Stellungskämpfen der Berufspolitiker mehr als Schaden nehmen , beschreibt Ash realistisch und plädiert entgegen der Havelschen Versöhnungshoffnung, für eine strikte Rollenteilung.

 

Anders als der Politiker, dem taktische Rücknahmen und Halbwahrheiten zum Berufsalltag werden ist der kritische Intellektuelle ein Mensch "der sich in die öffentliche Diskussion über politisch relevante Themen, über Politik im weitesten Sinne einmischt, sich jedoch bewusst aus dem Kampf um die politische Macht heraus hält." Es hat seinen guten Sinn, wenn viele Ex-Dissidenten - ob nun Intellektuelle oder nicht – lieber die zweite Entscheidung getroffen haben.

 

Die Fragen nach der Diktaturvergangenheit und der Auseinandersetzung damit geht Garton Ash pragmatisch an. Von der durch Tadeusz Mazowiecki in Polen initiierten Politik des "dicken Strichs" bis zum Kampf um die Öffnung der Stasi-Archive beschreibt er die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten und ihre Probleme. Als Historiker weiß er jedoch, wie wichtig der Kampf um die Erinnerung ist und spürt den Verdrängungspotentialen bei den östlichen aber auch den westlichen Beteiligten nach. Er demonstriert am Beispiel Egon Bahrs und anderer Vorreiter der Verständigungspolitik mit den kommunistischen Eliten, wie dehnbar die Gedächtnisse von Politikern sind. Zum Wert und zur Aussagekraft der DDR-Stasi-Akten kann Garton Ash, das mittlerweile publizierte Beispiel der eigenen Akteneinsicht heranziehen. Für ihn ist erwiesen, dass die Akten bei einigem Bemühen und Abstand die Wahrheit hergeben: „keine absolute Wahrheit mit einem großen "W" aber doch eine reale und wichtige Wahrheit“.

 

Bei all den verschiedenen Themen und Schwerpunkten seines Buches steht für Ash die Frage nach der Verantwortung der westlichen Demokratien für das Schicksal und die künftige Gestalt Europas im Mittelpunkt. Die Chance von 1989 sieht er nur halbherzig und verzögert genutzt. Mit allen Diktaturerfahrungen dieses Jahrhunderts und den neuen Möglichkeiten hätte Milosevic nicht erst nach Rambouillet sondern spätestens bei der Belagerung von Vukovar gestoppt werden müssen.

 

Über einen "Thatcherismus mit menschlichem Antlitz" als sinnvoller Entwicklungsoption im Osten wird man mit Garton Ash in aller Verbundenheit streiten können und müssen. Seine Forderungen nach einer Freiheitsverfassung für Europa, welche die Durchsetzung der Menschenrechte und die Auseinandersetzung mit diktatorischen Regimen welcher Prägung auch immer über die Rivalitäten und nationalen Borniertheiten vergangener Zeiten stellt, einer liberalen Ordnung, welche das demokratische Europa gemeinsam handeln lässt, werden alle seine alten und neuen Freunde mit ihm teilen.

 

 

Timothy Garton Ash: Zeit der Freiheit.

Aus den Zentren im Osten von Europa

Carl Hanser Verlag München 1999

 

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