Warten auf die Revolution
Metamorphosen der Utopie - Denker und Schriftsteller erinnern an den Aufbruch zur Demokratie in den Achtzigern. Heute wollen sie mit dieser Erfahrung Brüssel Beine machen
von Wolfgang Templin
aus: Rheinischer Merkur 18.08.2005
Kann der Osten Europa retten? Um die Union steht es schlecht: Gescheiterte Verfassungsreferenden und geplatzte EU-Gipfel hinterlassen Ratlosigkeit oder Verärgerung. Das ehrgeizige Projekt eines geeinten Europa trifft auf die Ablehnung seiner Bürgerinnen und Bürger und droht an den Egoismen nationaler Interessen zu scheitern.
Woher soll die notwendige Energie und Solidarität erwachsen, diese Krise zu überwinden? Und welche Rolle könnten die neuen Mitgliedsländer im Osten Europas dabei spielen? Welche neuen Ideen kommen aus Warschau, Prag und Budapest in Richtung Brüssel?
Dieser Frage sind Inka Thunecke und Mathias Richter nachgegangen. In einer Spurensuche besonderer Art haben sie autobiographische Gespräche mit 16 ehemaligen Oppositionellen aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn zusammengetragen. Die Herausgeber kennen manche ihrer Gesprächspartner schon seit den 80er Jahren.
Sie haben zum Beispiel mit Jiri Dienstbier gesprochen, Mitbegründer der Charta 77 und erster Außenminister der Tschechoslowakei nach 1989. Er schrieb in den achtziger Jahren ein Buch mit dem ironisch gemeinten Titel „Träumen von Europa“. Es konnte nur im Samisdat erscheinen und wurde für den Westen auf Deutsch und Englisch übersetzt. Westliche Verlage lehnten damals ab, weil ihnen die Überwindung der Teilung Europas und die damit verbundene Vereinigung Deutschlands, als eine zu unrealistische Vorstellung erschien. 1991 dann konnte das Buch erscheinen. Jetzt blickt Dienstbier auf seine alten Hoffnungen zurück. Immerhin: mit dem Beitritt seiner Heimat zur EU ist sein „Träumen von Europa“ in der Realität angekommen – Milchquoten und Verfassungsstreit inklusive.
Ähnlich wie Dienstbier sind einige Intellektuelle Anfang der neunziger Jahre in die Politik gegangen, aber keiner ist dort geblieben. Von den Gesprächspartnern, mit der polnischen Journalistin Helena Luczywo und der tschechischen Sozialwissenschaftlerin übrigens nur zwei Frauen, ist deshalb keiner mehr Berufspolitiker. Polnische Intellektuelle wie Karol Modzelewski und Jan Litynski gehörten zwar zu den Mitbegründern des Komitees zur Verteidigung der Arbeiterrechte (KOR) und der Solidarnosc. Nach 1989 saßen sie vorübergehend in der Regierung und im Parlament oder beteiligten sich wie Janos Kis und György Dalos in Ungarn am Aufbau demokratischer Parteien. Der Umgang mit der Machttechnik und die Kompromisszwänge politischer Berufskarrieren lag ihnen allerdings nicht auf Dauer.
Ehemals gemeinsame Wege trennten sich. So beschreibt der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi die Spaltung der alten Opposition nach 1989 aus seiner Sicht: „Die einen haben sich mit der schlechten Realität versöhnt, ein kleinerer Teil ist den alten Werten treu geblieben, der bedingungslosen Hingabe an die Menschenrechte“.
Damit nicht genug der Unterschiede: Der tschechische Psychologe Jaroslav Sabata, Jahrgang 1921, und der 1957 geborene polnische Ingenieur und Umweltaktivist, Radoslaw Gawlik, markieren die generationsübergreifende Altersspanne der Gesprächspartner und ermöglichen spannende Vergleiche. Konnte man mit den blutigen Erfahrungen des niedergeschlagenen Ungarnaufstandes 1956 noch einmal Hoffnungen auf einen sozialistischen Reformweg von 1968 mobilisieren? Wann genau und woran scheiterte der Prager Frühling? Was bedeutete die nachfolgende Lähmung der Gesellschaft für die nächste Oppositionsgeneration?
Trotz aller Unterschiede: An entscheidenden Punkten treffen sich biographische Erfahrungen aus den verschiedenen Ländern. In den siebziger Jahren war bei den meisten Beteiligten jegliche Hoffnung auf die Reformfähigkeit staatssozialistischer Systeme gestorben. Zuvor hatten Aufstände wie in Ungarn 1956 oder in Prag 1968 in einer Katastrophe geendet. Zugleich waren die jeweilig herrschenden nationalen kommunistischen Eliten unter Kadar, Gierek und Husak bereits geschwächt und versuchten die Gesellschaften durch Scheinkompromisse, wie den ungarischen Gulaschkommunismus, zu befrieden.
Was den Oppositionskräften blieb, war der zähe Kampf um Freiräume. Fliegende Universitäten, eigene Zeitungen und die Solidarität untereinander, das waren die kleinen Bausteine einer Alternativkultur. Langsam entstand so eine Parallelgesellschaft. Sie organisierte sich in Oppositionsgruppen wie dem KOR und der Charta 77. Mit der polnischen Solidarnosc entstand schließlich eine Massenbewegung mit einer völlig neuen Qualität. So mündeten einzelne Inseln der Zivilgesellschaft in eine friedliche, soziale Massenbewegung, womit das Machtmonopol der herrschenden Kommunisten in Frage gestellt war. Sie bäumten sich mit dem polnischen Kriegsrecht 1981 ein letztes Mal auf – vergebens, den Machtzerfall konnten sie nicht mehr aufhalten.
Friedliche Massenproteste und die samtene Revolution von 1989 führten die mittelosteuropäischen Länder auf den demokratischen Entwicklungsweg und signalisierten das Ende der europäischen Teilung. Zugleich wurden die Schwäche und die Illusionen der Opposition deutlich. Alte und neue Eliten setzten die sozialökonomischen Umbrüche durch, ohne dass die Grundlagen einer selbstbewussten Zivilgesellschaft vorhanden waren. Solidarnosc verwandelte sich zu einem Mythos und konnte weder als starke Gewerkschaft noch als politische Bürgerbewegung Profil gewinnen. Das Wiederaufflammen nationalistischer und populistischer Tendenzen und die Kinderkrankheiten der neuen demokratischen Parteien kamen hinzu.
Bei aller Ernüchterung klingt bei den meisten Interviewpartnern ein erstaunlicher Optimismus durch. Ein Optimismus, der auf Europa gerichtet ist. Das verwundert auf den ersten Blick, verbinden wir doch die Eu eher mit Pessimismus und Politikverdrossenheit.
Anders die Intellektuellen aus den neuen Beitrittsländern. Das hat mit ihren Biographien und ihrer Hartnäckigkeit zu tun. Sie akzeptieren, wie der Budapester Dozent für politische Philosophie Janos Kis, Utopien nicht als Blaupausen für die Zukunft, sondern als Werkzeuge sozialer Kritik. Das zukünftige Europa wird als gesellschaftliches und kulturelles Projekt gesehen, geprägt von einer gemeinsamen, kritischen Erinnerungskultur, der Durchsetzung der Menschenrechte und der Solidarität füreinander.
Und als ein Weg, auf dem sich europäische Citoyens entwickeln und eine gemeinsame europäische Identität wächst. Jaroslav Sabata zum Beispiel, der bis zu seiner Pensionierung als Menschenrechtsbeauftragter der tschechischen Regierung tätig war, spricht davon, dass neoimperiale Format der Globalisierung in ein postimperiales umzuwandeln. Europa würde damit ein Machtfaktor anderer Art, ein positives Gegengewicht zu einer destruktiven und zutiefst ungerechten Dynamik der Globalisierung.
Gewiss, die Gesprächspartner sehen klar die Rückständigkeit ihrer Länder, die enormen ökonomischen und sozialen Anstrengungen, um im westlich geprägten Europa anzukommen. Dennoch existieren im Osten Hoffnungen, die große Teile des Westens längst begraben haben. Ihrer Einschätzung nach gibt es Abwehrkräfte gegen Populismus und Modernisierungslügen, die erneut freigesetzt werden können. Für Irina Siklova, die an der Prager Karlsuniversität die Abteilung Sozialarbeit aufbaute und ein Zentrum für Gender Studies gründete, wird „zumindest die Generation der ehemaligen Dissidenten nicht zu Postmodernisten mutieren. Wir haben noch nicht verlernt zu kämpfen“.
Nahezu alle Interviewten sehen sich an der Schnittstelle zwischen einer immer besser funktionierenden Zivilgesellschaft und den neuen politischen Eliten. Ihre Kritik richtet sich gegen parteistrategische Verkrustungen des politischen Lebens. Jaroslav Sabata meint: „Wenn die irgendwann unerträglich werden sollten, ist eine neue Ära der samtenen Revolution angezeigt“.
Mathias Richter, Inka Thunecke (Hrsg.):
Metamorphosen der Utopie.
Talheimer Verlag, Mössingen-Talheim 2005. 393 Seiten, 28 EUR.