Eine Alternative? Reformvorstellungen und Erneuerungshoffnungen in der Ära Honecker

 

Rudolf Bahro: Eine Alternative oder Lehrstück für eine Sackgasse

 

Vortrag von Wolfgang Templin

 


Meine Damen und Herren,

Ich hoffe, Sie sind alle vor dieser Veranstaltung noch einmal das Hauptwerk von Rudolf Bahro durchgegangen. Für diejenigen unter Ihnen, welche dies nicht taten, werden anschließend am Ausgang Pflichtleseexemplare verteilt.

Wenn ich hier vor der Aufgabe stehe, etwas über Rudolf Bahros Alternative, deren Aufnahme in den alternativen Gruppen in der DDR, unter den SED-Reformern und in der Oppositionsszene Mittelosteuropas zu sagen, bin ich angesichts der zur Verfügung stehenden Zeit, zur äußersten Verknappung genötigt. Bei der Auseinandersetzung mit seinem Werk, werden Momente der Kritik im Vordergrund stehen.

Dies soll Bahros persönlichen Mut, die Bedeutung und die wichtigen Impulse der internationalen Solidaritätsbewegung „Freiheit für Rudolf Bahro“ und des gleichnamigen Bahro-Komitees in keiner Weise in Frage stellen. In dieser Bewegung waren sowohl Anhänger, wie auch Kritiker seiner Thesen vereinigt. Menschen, die der Protest gegen die Repressionspraxis eines Unrechtsregimes, gegen ein Zuchthausurteil von acht Jahren vereinigte.


Rudolf Bahro, 1935 in Schlesien geboren, absolvierte von 1954 bis 1959 ein Studium der Philosophie an der Ostberliner Humboldt – Universität. Rund fünfzehn Jahre später, zu dieser Zeit war ich Student an der gleichen Fakultät, pflegte Professor Hermann Ley - ein Zyniker von Format- während seiner Vorlesungen nach der Bedeutung der Hausnummer unseres Institutes zu fragen. Wir waren in der Universitätsstraße 3b untergebracht. Schweigen im Auditorium. Hermann Ley, ließ sein charakteristisches, meckerndes Lachen hören und nahm uns die Antwort ab: „Denken Sie doch an die großen drei B. Wolf Biermann, Jurek Becker, Volker Braun“. Mit Rudolf Bahro hätte er wenige Jahre später das vierte B hinzufügen können. Es hatte seinen makabren Sinn, dass das philosophische Institut als Elitenkaderschmiede des Systems, regelmäßig auch seine Häretiker und Dissidenten hervorbrachte.


Der Absolvent Rudolf Bahro wurde nach Tätigkeiten in verschiedenen Redaktionen, als Abteilungsleiter Arbeitsorganisation in den „VEB Gummikombinat Berlin“ versetzt und arbeitete dort an einer Dissertation über die Effektivität des Einsatzes von Hochschul- und Fachschulkadern im sozialistischen Betrieb. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen und Einsichten, dürften den sozialökonomischen Gehalt seiner „Alternative“ entscheidend beeinflusst haben.
An der Vorbereitung des Werkes saß er bereits seit längerer Zeit, während die direkte Arbeit am Manuskript in die Jahre 1973-1976 fällt. Was dann, nach Veröffentlichung von Auszügen im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ im August 1977, als Buch in der Europäischen Verlagsanstalt erschien, war ein Theoriebrocken, der es in sich hatte. Knapp fünfhundertfünfzig Seiten marxistischen Denkkomprimats, gegliedert in drei Hauptteile:

In einem historischen Voraussetzungsteil beschreibt Bahro aus seiner Sicht „das Phänomen des nichtkapitalistischen Weges zur Industriegesellschaft“.

Der Analyse damaliger struktureller Verfasstheit, nicht nur der DDR- Gesellschaften, sondern der entwickelten Volksdemokratien insgesamt, ist die „Anatomie des real existierenden Sozialismus“ gewidmet.

Die für ihn eigentliche „Alternative“ entwickelt Bahro im dritten Teil "Zur Strategie einer kommunistischen Alternative.“ Bahros Denkhorizont, in dem er alle Teile und Thesen seines Werkes stehen, ist von Voraussetzungen bestimmt, die jedem Marxismus fernen bzw. ungewohnten Zuhörer, wahrscheinlich schwer einleuchten werden, ihn sogar befremden müssen. Umgekehrt werden sie jedem Marxismus vertrauten Anwesenden noch einmal Erinnerungsschauer über den Rücken jagen können.


Am Beginn steht die Formationseinteilung der Welt, in eine Vorgeschichte angefüllt mit Antagonismen, Leid und Entfremdung und eine darauf folgende weltweite Aufhebung dieses antagonistischen Grundzustandes durch die internationale kommunistische Bewegung.
Kommt die kommunistische Umwälzung, als umfassende Kulturrevolution nicht zustande, wird nicht nur der bisherige Antagonismus und Mangel verlängert, wird die Welt in einer globalen Katastrophe untergehen.

Zwischen der alten von Antagonismen zerrissenen Welt und dem Gesellschaftszustand nach Vollendung der kommunistischen Kulturrevolution, liegt eine historische Zwischenphase, die von Bahro als nichtkapitalistischer Weg zur Industriegesellschaft bestimmt wird. Hierunter fällt die Entwicklung der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution.
Für die ökonomische und soziale Verfasstheit der Sowjetunion und der späteren Volksdemokratien wählt Bahro den Begriff der "protosozialistischen“ Verhältnisse, welche durch die revolutionäre Überwindung des privatkapitalistischen Eigentums gekennzeichnet sind, ohne dass es schon zur realen Vergesellschaftung gekommen ist. Die verfestigte Herrschaft eines kastenartigen, bürokratischen Parteiapparates, blockiert die Entwicklung zum reifen Sozialismus.

Dennoch sind Lenin und die Bolschewiki für Bahro die subjektiven Vollstrecker einer historischen Notwendigkeit, die Oktoberrevolution und ihre Folgen ein entscheidender historischer Fortschritt.

Nichts lag Bahro ferner, als in der Machtübernahme durch die Bolschewiki und dem Entwicklungsweg, den die spätere Sowjetunion einschlug, eine der größten Tragödien des 20.Jahrhunderts zu sehen. Im Spektrum möglicher Entwicklungen nach dem Fall des Zarenreiches lässt er keine sinnvollen Alternativen gelten, bedauert den Massenterror der zwanziger und dreißiger Jahre, sieht aber selbst im Gulag-System ein entscheidendes, unerlässliches Modernisierungsinstrument. Für ihn waren Bauernmassen in eine Industrialisierung hineinzutreiben, die sie nicht wollen konnten:

 "Ohne den Zwangsapparat, den die Bolschewiki in Bewegung setzten, wäre Russland heute noch ein Bauernland, höchstwahrscheinlich auf kapitalistischem Wege. Die Historiker, insbesondere die sowjetischen, mögen feststellen, wie weit Modifikationen möglich gewesen wären, die das Ausmaß der Opfer und Verluste sowie die Intensität der nachfolgenden Depression in der Landwirtschaft vermindert hätten. Jedenfalls war der Zusammenstoß als solcher unvermeidlich, umso mehr, als inzwischen historisch erwiesen ist, dass auch ein ausreichendes Angebot an Landmaschinen, die Bauern keineswegs automatisch zur Hinnahme der Kollektivierung bewegt hätte“ (S.120)

 

Den Sinn der Zwangskollektivierung als solche zu hinterfragen kommt Bahro gar nicht in den Sinn. Im Umgang mit den unermesslichen Opfern des "Modernisierungsexperimentes“ geht er sehr selektiv vor. Er kritisiert die irrationalen Formen des Terrors, welche zur „Dezimierung und Paralysierung“ der bewusstesten Teile der Partei geführt hätten, konstatiert ,dass die Periode unter Stalin, den Leninismus seiner humanistischen Perspektive beraubt hätte, die es wiederzugewinnen gälte. Opfer des Leninschen und Stalinschen Terrors auf Seiten konkurrierender politischer Gruppierungen oder gar Klassenfeinde, kommen unserem Humanisten Bahro kaum in den Blick.

 

Sein Credo für den historischen Teil lautet denn auch:

„Die sowjetische Gesellschaft braucht eine erneuerte kommunistische Partei, unter deren Führung sie die in den Jahren des Industrialisierungsdespotismus erarbeiteten Produktivkräfte für den Aufbruch zu neuen Ufern, in den eigentlichen Sozialismus ausnutzen kann“ (S.140)
Diese erneuerte kommunistische Partei, eine von Bahro in Absetzung zur deformierten, erstarrten Apparatpartei „Bund der Kommunisten“ genannte Organisation, stellt er in den Mittelpunkt der systematischen Teile seiner Alternative. Ob sich ein solcher Bund der Kommunisten, aus den alten kommunistischen Parteien herausentwickeln kann, oder als Neu- und Gegengründung zustande kommen muss, lässt er offen. Entscheidend sind für ihn das Prinzip und die Qualität einer Vorhutpartei, die Ersetzung einer unfähigen und korrupten Elite durch die kompetenten und lauteren Mitglieder des Bundes der Kommunisten.

Anders als in der Sowjetunion, die mit der Hypothek eines rückständigen Bauernlandes, die Phase des Industriedespotismus durchschreiten und durchleiden musste, seien in den entwickelten Volksdemokratien, wie der DDR oder der CSSR, Grundlagen industrieller und arbeitsteiliger Vergesellschaftung bereits viel höher entwickelt gewesen. Hier ginge es nicht nur um technologische Voraussetzungen, sondern die durch langjährige Arbeitsdisziplin und Entwicklung höherer intellektueller Fähigkeiten ermöglichte Produktion emanzipatorischen "überschüssigen Bewusstseins“.


Im Gegensatz zu den materiellen und ideellen Eigeninteressen, der Vertreter des verselbständigten Partei- und Staatsapparates, einer kompletten Bürokratenkaste, gibt es für Bahro auf allen anderen Ebenen der protosozialistischen Gesellschaft, Interessenlagen und ein ihnen entsprechendes Bewusstsein, welche zur weiteren Vergesellschaftung, zum reifen Sozialismus drängen. Parteimitglieder, die ideelle Kommunisten geblieben seien und aus den Zwängen arbeitsteilig subalterner Tätigkeit herausgenommene Intellektuelle, seien die stärksten Träger einer damit verbundenen emanzipatorischen Energie. Auf deren letztendliche Sprengkraft setzt Bahro, seine eigentliche Hoffnung, ihnen ist die Alternative gewidmet.
Auch hier fällt, wie bereits im historischen Teil, die Geschlossenheit und Alternativlosigkeit der Alternative auf. Es gibt für Bahro keine sinnvolle andere Möglichkeit aus den Unterdrückungspotentialen und Zwängen des Realsozialismus auszubrechen als über die Vorhutpartei eines Bundes der Kommunisten, dessen konstitutive Führungsrolle in der künftigen Gesellschaft, nicht in Frage zu stellen ist. Was er von demokratischen Flausen, wie politischem Pluralismus, Gewaltenteilung und einer Mehrparteien-Gesellschaft hält, drückt er im letzten Teil der Alternative unmissverständlich aus:

"die parteien-pluralistische Konzeption erscheint mir als anachronistische Gedankenlosigkeit, die den konkreten historischen Stoff in unseren Ländern ganz verfehlt. Eine Vielheit politischer Parteien beruht auf einer Klassenstruktur, die aus deutlich verschiedenen, ja konträren sozialen Elementen besteht.“ (S.416)


Diese konträren sozialen Elemente sind für ihn durch die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse unwiderruflich beseitigt. Der von ihm heftig und scheinbar konsequent kritisierte Realzustand der DDR, wird unter der Hand zu einem solchermaßen historischen Fortschritt, dass man sich mit den demokratischen Qualitäten oder Reformpotentialen bürgerlich – kapitalistischer Gesellschaften, gar nicht mehr aufhalten braucht. Ebenso rigoros verfährt er mit überkommenen Relikten sozialen Zusammenlebens, wie der bürgerlichen Kleinfamilie.


An diesem Punkt der Darstellung taucht natürlich die Frage auf, wie weit Bahro die Positionen der „Alternative“, die ja bei aller verarbeiteten Literatur, vor allem seine eigene DDR- Situation als Intellektueller ausdrücken, später revidiert hat. Da wir mit Dr. Guntolf Herzberg, den weltbesten Bahro-Biographen im Podium haben werden, wird dies ein spannender Diskussionspunkt sein.


Für meine, sicher unvollständige, Wahrnehmung hat sich Rudolf Bahro im Laufe seiner westlichen Erfahrungen von einzelnen historischen Verkürzungen und Argumentationsmustern verabschiedet, nicht jedoch von seinem grundlegend fundamentalistischen Konstruktionsprinzip. Ob wir seine Bhagwan – Phase oder die spätere „Logik der Rettung“ und weitere Werke nehmen: Es ist immer eine aufgeklärte, erleuchtete Elite, welche einer Gesellschaft mit einem quasi-fertigen Bauplan entgegentritt, sie zum Besseren führt und erzieht. Aus dem Bund der Kommunisten, wird der “Rat der Weisen“, die Formen und Attribute einer aufgeklärten Erziehungsdiktatur wechseln, die Essenz bleibt sich ähnlich.

Unterhalb dieser gesamtgesellschaftlichen Konstruktionen und Heilspläne gibt Rudolf Bahro jedoch eine große Menge wichtiger Anregungen, bei denen er sich auf Erkenntnisse von Wilhelm Reich und Siegmund Freud, moderne Sozialpsychologen und Sozialtheoretiker stützt. Seine Diskussionsanstöße, zu Fragen der Arbeitsteilung und ihrer Folgen, zu den Chancen von Kommune Experimenten, zu ökologischen Fragen waren folgenreich und positiv. Hier setzte auch die Auseinandersetzung mit seiner „Alternative“ an, die sich in der buntscheckigen Vielfalt alternativ- kultureller Gruppen, Friedens- und Ökologiekreise der DDR und in zahlreichen weiteren Diskussionsgruppen abspielte. Dieses Spektrum, aus dem erst in den achtziger Jahren wirkliche oppositionelle Gruppen herauswuchsen, musste von der ideologiehaltigen Theorielast der Alternative, auf der einen Seite schier erdrückt sein. Hier saßen beileibe nicht nur marxistisch vorgebildete Intellektuelle zusammen. Auf der anderen Seite war klar, dass mit der „Alternative“ ein theoretischer Wurf vorlag, den kritische Köpfe aus der DDR so noch nicht zustande gebracht hatten. Vielfach siegten also die Neugier und der Drang zur Lektüre.

Über die verschlungenen Wege der Alternative in die DDR und die Erfahrungen mit Bahro-Seminaren werden wir sicher noch auf dem Podium sprechen.

Als Absolvent der Fachrichtung marxistische Philosophie und kurzzeitiger ideeller Trotzkist hatte ich meine einschlägigen Erfahrungen mit linker Kritik am Realsozialismus.

Meine Zweifel an dieser Art, erneut geschlossener dogmatischer Kritik, hatte ein einjähriger Studienaufenthalt in Polen verstärkt, aus dem ich gerade zurückkam als die ersten Exemplare der „Alternative“ bei uns eintrafen.

Die Auseinandersetzung mit Bahros Alternative und das Eintauchen in das alternative Spektrum Ostberlins, die lebenspraktische Lösung aus dem Universitätsmilieu, dem ich mehrere Jahre verhaftet war, verliefen zeitgleich und ließen mich von Jahr zu Jahr kritischer auf die Grundthesen des Buches zurückblicken. Bahro hatte dem offenen Spektrum einer künftigen neuen DDR-Opposition, mit dem Angebot einer ideologiebefrachteten, geschlossenen, Alternative auf der einen Seite einen Bärendienst erwiesen. Auf der andern Seite, konnte die kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk und die Aufnahme von Anstößen, die es dennoch beinhaltete und über die ich bereits schrieb, entscheidende Impulse setzen und voranbringen.

Bahros Alternative, in ihrer Aufnahme durch die etablierten DDR-Intellektuellen und das „Aufbruchspotential innerhalb der SED“, für die das Buch ja eigentlich bestimmt war, ist ein eigenes Kapitel für sich. Hier fühle ich mich für eine Darstellung der Wirkung auch weniger prädestiniert, obwohl ich weiterhin einzelne Kontakte in dieses Milieu hatte.

Nur so viel dazu: Die Anlage und die Aussagen der Alternative konnten bei aller Radikalität ihres Anspruches, so interpretiert werden, dass man den Zeitpunkt, bis zu dem sich genügend emanzipative, systemsprengende Energie angesammelt habe, abwarten müsse. Bis dahin gälte es theoretische, intellektuelle Vorbereitungsarbeit zu leisten und die Schar der Aufbruchsbereiten zu vergrößern. Dies schloss Diskussionskreise und gegebenenfalls konspirative Aktivitäten ein, nicht aber offene Aktivitäten im Feld der für marxistische Intellektuelle ohnehin sehr fremden Kirchenmilieus. Ohne den eigenen bequemen Platz und die Karriere ernsthaft in Frage zu stellen, konnten zahlreiche Parteimitglieder mit Bahro unter dem Kopfkissen oder in der Nachttischschublade ruhig einschlafen und von einer besseren Zukunft träumen. Die Perestroika Phase mit Gorbatschow als rotem Erlöser gab diesen Hoffnungen erneute, wenngleich falsche Nahrung.


Es ist kein Zufall, dass sich Rudolf Bahro, nach mehr als zehn Jahren Erfahrung im Westen, erneut auf die mögliche Vorhutrolle einer erneuerten SED hoffte, als diese um die Jahreswende 1989/90 ihre wundersame Transformation erlebte. Sein verzweifelter Versuch, die zutiefst verunsicherten Parteimitglieder im Dezember 1989 von der notwendigen Erneuerung durch Neugründung zu überzeugen, ist ein Lehrstück eigener Art. Die übergroße Mehrzahl der Delegierten, einschließlich des Gros der "SED-Reformer“ um Gregor Gysi, entschied sich gegen die Auflösung der Partei und wählte den Weg des Etikettenschwindels, durch bloße Namensumbenennung. Damit waren die Parteistrukturen, Finanzen und der Kaderrückhalt gerettet und der Weg in eine neue Erfolgsgeschichte unter demokratischen Bedingungen geebnet. Soviel zum Mut und der Qualität des „emanzipatorischen Bewusstseins unter Intellektuellen und SED- Genossen.


Auch hier möchte ich die Konsequenz und den Mut Einzelner, die sich vor oder nach 1989 vom erstarrten Körper der Partei lösten, die zur Opposition und Bürgerbewegung stießen, oder später ihren Weg ins Freie suchten, nicht in Frage stellen. Ihre Zahl blieb, gemessen am Hoffnungspotential, welches Theoretiker wie Bahro auf sie richteten, eher gering. Die Gründe dafür, könnten Gegenstand einer eigenen Veranstaltung sein.

 

Wird nach der Aufnahme der "Alternative“ in den oppositionellen Szenen Mittel- und Osteuropas gefragt, darf man, einen sehr kritischen Umgang damit voraussetzen. Die Gründe sind klar.

Für die Intellektuellen und Oppositionellen Polen, Ungarn und selbst der CSSR, waren die Zeiten dogmatisch –linker Kritik des Realsozialismus und oppositionell-marxistischer Systembauerei mehrheitlich längst vorbei. In jedem dieser Länder und mit Abstufungen auch den anderen „Volksdemokratien“ und der Sowjetunion selbst, hatte es eine relativ breite Schicht von Intellektuellen gegeben, die sich links, prokommunistisch oder sozialistisch verstanden. Viele von Ihnen fühlten sich in der Tauwetterphase, der Erneuerung ihrer Gesellschaftssysteme und der immanenten Kritik daran, verpflichtet. Leszek Kolakowskis berühmte Thesen über den "Marxismus als Philosophie der Freiheit“, Milovan Djilas "Die neue Klasse – eine Analyse des kommunistischen Systems“ sollen hier nur als Beispiele stehen. Es gab eine ganze Denkschule sogenannter „Revisionisten“, welche auch den intellektuellen Weg zum Prager Frühling prägten.

Spätestens die Panzer in Prag, das Erstarren der Tauwetterhoffnungen in Polen und zahlreiche weitere Entwicklungen hatten den mittelosteuropäischen Oppositionskräften, die marxistischen Denkwege als Sackgasse offenbart. Ex-Kommunisten wie Leszek Kolakowski, Adam Michnik und Jacek Kuron, Personen wie Vaclav Havel und György Konrad, die dem kommunistischen Hoffnungsexperiment ursprünglich nahestanden, setzten sich in den siebziger Jahren längst für die intellektuellen und politischen Werte einer demokratischen, menschenrechtlich orientierten Opposition ein.

Leszek Kolakowskis, bereits im englischen Exil entstandenes dreibändiges Werk „Die Hauptströmungen des Marxismus“ erschienen, ist das beste Beispiel einer substantiellen Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Folgewirkungen des Marxismus als Theorie. Kolakowski geht dem komplizierten Zusammenhang zwischen dem ideellen Ansatz Marx und der späteren Praxis der marxistischen Bewegung nach. Für ihn ist es eine „ Reflexion über die seltsame Geschichte einer Idee, die mit dem prometheischen Humanismus begann und mit den Ungeheuerlichkeiten der stalinistischen Tyrannei endete“ (S. 19)


Nahezu zeitgleich auf Deutsch vorliegend, wie Bahros Alternative, stellte sich Kolakowski mit seinem monumentalen Werk allen Versuchen entgegen, die Renaissance oder Neorenaissance des Marxismus als Theorie, Ideologie oder politisches Handlungskonzept zu befördern. Als gültige Antwort auf alle Erlösungsbeschwörer in den Fußstapfen des Meisterdenkers aus Trier, kann eine Passage im Epilog der "Hauptströmungen“ gelten:


"Die Idee des demokratischen Sozialismus hat nichts gemein mit der apokalyptischen Hoffnung auf ein Ende der Geschichte, mit dem Glauben an die historische Unvermeidlichkeit des Sozialismus und an die natürliche Abfolge der „gesellschaftlichen Formationen“, mit der Lehre von der „Diktatur des Proletariats“, mit der Glorifizierung der Gewalt, mit dem Glauben, dass die Verstaatlichung der Industrie ein Wert an sich sei, mit den Phantasien über eine konfliktfreie Gesellschaft und eine Wirtschaft ohne Geld. Der demokratische Sozialismus ist ein Versuch Institutionen zu errichten, die nach und nach erreichen könnten, dass die Unterordnung der Produktion unter den Profit eingeschränkt, die Not beseitigt, die Ungleichheit verringert, die den Zugang zur Bildung erschwerende gesellschaftliche Schranke weggeräumt und die sowohl von der Staatsbürokratie wie von totalitären Versuchungen ausgehende Gefahr für die demokratischen Freiheiten minimalisiert wird. All diese Bemühungen und Versuche sind aussichtslos und unproduktiv, wenn nicht der Wert der Freiheit ihren unabdingbaren Mittelpunkt darstellt; und zwar nicht nur, weil die Freiheit ein sich selbst genügender Wert ist, der nicht der Rechtfertigung durch andere Werte bedarf, sondern auch, weil sie die Bedingung ist, unter der die Gesellschaft zur Selbstkorrektur fähig ist. (despotische Systeme, die keine Selbstregelungsmechanismen besitzen, können ihre Fehler nur korrigieren, nachdem es zu Katastrophen gekommen ist). (S.573 f.)
In einer Zeit gesellschaftlichen Widerstandes von unten, bei dem oppositionelle Kommunisten nur noch als kleine Minorität vorhanden waren, musste das Angebot der "Alternative“ in den mittelosteuropäischen Oppositionskreisen als geradezu fossil erscheinen. Die DDR wurde als letztes Reservat einer marxistischen Opposition wahrgenommen. Mit Wolf Biermann konnte man in Polen als rebellischem Künstler Interesse erwecken, Robert Havemann wurde Respekt für seine Lebenskonsequenz gezollt, ohne dass man ihn als Theoretiker ernst nahm.


Wer in der DDR von Bahros Theorieansätzen unbefriedigt blieb konnte zu Vaclav Havels "Versuch in der Wahrheit zu leben“ greifen, zu Kuron, Michnik und Kolakowski, konnte sich mit den Gründungsdokumenten des KOR und der Charta 77 auseinandersetzen. All diese Bücher und Texte waren in deutscher Übersetzung vorhanden, kursierten als Manuskripte und Abschriften im alternativen Milieu. Wolf Biermanns Ausbürgerung hatte überdies einen Funken ganz anderer Art gezündet, der durch Verhaftungen und massenhafte Ausbürgerungen nicht mehr erstickt werden konnte. Eine neue Generation in der DDR machte ihre eigenen oppositionellen Erfahrungen und richtete den Blick nach Osten und Westen. Die Frage nach dem „Roten Stein der Weisen“, von dem Wolf Biermann einige Jahre später sang, wurde dabei immer unwichtiger.

 

Rudorf Bahro
Die Alternative
Zur Kritik des real existierenden Sozialismus
Europäische Verlagsanstalt, Köln 1977

 

 

 

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